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Nach der Maus der Lowe

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Im Hotel „Majestic“ am Saigon-Fluß konnte man vor drei Jahren keine Minute lang schlafen, weil die Fensterscheiben zitterten, die Süd-vietnamesischen Kanonen donnerten und 10 Meilen von der Stadt entfernt die Artillerie nordvietnamesische Stellungen beschoß. Jetzt, ein Jahr nach der Unterzeichnung des Pariser Abkommens am 27. Jänner 1973, zittern keine Fensterscheiben mehr im Majestic. Bei Nacht kann man von weitem und sporadisch Detonationen vernehmen, die sich offenbar im Delta ereignen. Am anderen Ufer des Flusses arbeiten zahlreiche Männer in der Schiffswerft. Auf dem Fluß verkehren friedlich Fähren und Sampans. Auf den Straßen flitzen Motorräder hin und her, von graziösen Mädchen gelenkt, die das traditionelle Ao Dai tragen, die schwarze Seidenhose mit einer blauen, gelben oder violetten Tunika. Unzählige Fahrräder, Rikschas und kleine Autos verwirren den Verkehr. Hier ist keine Spur von der weltweiten Ölkrise zu spüren. Die Araber beliefern Südvietnam über die Raffinerien von Singapur mit genügend Treibstoff. Dennoch wurden kürzlich Energiesparmaßnahmen eingeführt ... Abgesehen davon aber haben Experten beträchtliche Ölvorkommen im südlichen Teil des Landes entdeckt, die binnen zwei Jahren ausgebaut werden könnten.

Die Tu-Do-Straße mit ihren Galerien, Restaurants, Hotels und GeSchäften gehört den Touristen. Es gibt ihrer allerdings nur wenige derzeit. Seit die Amerikaner und ihre Verbündeten Südvietnam verlassen haben, wurden nur ungefähr 32.000 Touristen gezählt. Manche Hotels, wie das „Eden-Roc“, haben den Betrieb aufgelassen, auch einige Night-Clubs, darunter „The King“.

Saigon ist ein großer Marktplatz. Junge Frauen tragen in Körben, die von Bambusstangen hängen, fertige Lunches, die auf der Straße verspeist werden. In den Geschäften gibt es vietnamesische Handarbeiten zu kaufen oder mit Elefanten, Tigern und Löwen bemalte Lackschachteln. Aber der Besucher sieht auch viele Kriegsversehrte und Bettler. Der Krieg hat das Antlitz Vietnams für Jahrzehnte gezeichnet. Und der Kampf dauert noch an, trotz des Pariser Abkommens.

Zwei Kulturen — die französische und die chinesische — haben Vietnam geformt. Ältere Einwohner sprechen noch französisch, die junge Generation bevorzugt die englische Sprache. Das französische Kulturzentrum bemüht sich — mit viel Erfolg die gebildeten Vietnamesen an sich zu ziehen. Saigon hat fünf Universitäten mit ungefähr 50.000 Studenten, 16 Tageszeitungen, darunter eine englische und eine französische. Zusammen mit der Chinesenstadt Oholon hat Saigon 3,000.000 Einwohner.

Problem Nummer eins ist, daß sich etwa 300.000 nordvietnamesische Soldaten auf südvietnamesischem Boden befinden. Die Kommunisten kontrollieren Gebiete in den entfernteren Distrikten und drei Prozent der Gesamtbevölkerung von 17,000.000 Menschen. Sie überrennen immer wieder entfernte Militärposten und bauen eine neue Dschungelstraße. Die nordvietnamesischen Streitkräfte werden früher oder später einen Großangriff starten, derzeit sind sie jedoch mit der Reorganisierung ihrer Truppen beschäftigt. Weder die Russen noch die Chinesen scheinen derzeit einen größeren kommunistischen Angriff in Südvietnam unterstützen zu wollen, aber der Kriegszustand in Südvietnam blieb seit der Unterzeichnung des Pariser Abkommens unverändert, die nordvietnamesische Aggression zwingt den Süden, den Kampf überall fortzusetzen. Südvietnam muß sich verteidigen und gleichzeitig seine Wirtschaft weiterentwickeln. Die Armee bekämpft nicht nur den Feind in der vordersten Linie, sie muß auch der Bevölkerung an der „Heimatfront“ zur Steigerung der Ernten und der Produktion helfen.

Alle sind kriegsmüde, auch die Nordvietnamesen. Pessimisten meinen aber, daß es keine Lösung geben könne, weil Hanoi den Plan nicht aufgeben werde, Südvietnam zu absorbieren. Optimisten wieder hoffen, die Nordvietnamesen würden begreifen, daß sie diesen Plan nicht realisieren können.

Nach dem „Jahr der Maus“ und dem „Jahr des Ochsen“ begann nun das „Jahr des Löwen“. Wird es ein gutes oder ein schlechtes Jahr sein? „Für den Löwen sind Mut und Ausdauer charakteristisch“, sagte ein vietnamesischer Journalist. „Und unser Stammvater war König Dragon. Das vietnamesische Volk ist tapfer und wir haben Ausdauer. Unsere Armee ist stark, mehr als eine Million Mann. Wir hoffen fest, daß das Jahr des Löwen ein gutes für uns sein wird.“

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