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Nach fünfunddreißig Jahren

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Als das Zeitalter Hand an sich legte, war er diese Hand.

Bertold Brecht

Niemand wird behaupten wollen, Karl Kraus sei ein gerechter Ankläger gewesen…

TE („Die Welt“, 10. Juni 1971)

Am 12. Juni 1936 ist Karl Kraus, zweiundsechzigjährig, gestorben, und wenige Wochen vor dem fünfunddreißigsten Todestag erschien eine wohlfeile Ausgabe „Ausgewählte Werke“ in drei Bänden (1916 Seiten Umfang), ein Querschnitt durch „Die Fackel“, angeordnet in die Epochen „Grimassen“ (1902 bis 1914), „In dieser großen Zeit“ (1914 bis 1925) und „Vor der Walpurgisnacht“ (1925 bis 1933); Anfang (1899 bis 1902) sowie Ende (1934 bis 1936) der „Fackel“, das Frühwerk und die dramatische Produktion außerhalb der Zeitschrift sind also nicht einbezogen. Ein mit erkennbarer Sorgfalt überdachtes Unternehmen, veranstaltet „mit freundlicher Genehmigung des Kösel-Verlages“, somit kein Konkurrenzversuch, sondern im Gegenteil für manchen faszinierten Leser ein Anreiz, sich gelegentlich mit der Reprint-Gesamtwiedengabe der „Fak- kel“ einzulassen.

Der Titel des ersten Bandes ist von dem des Aufsatzes „Grimassen über Kultur und Bühne“ (Jänner 1909) bezogen, der Titel des zweiten von der berühmten Rede, die Karl Kraus am 9. November 1914 gehalten hat und in der er der sogenannten „großen Zeit“, die damals erst drei Monate alt war, schon im ersten Satz prophezeit, daß sie „wieder klein werden wird, wenn ihr dazu noch Zeit bleibt…“. Der letzte Band umfaßt die Jahre, welche in die Hitler- Katastrophe führten; der Titel spielt an den 300-Seiten-Aufsatz „Die Dritte Walpurgisnacht“ an, der zwar 1933 geschrieben und gesetzt, aber erst 1952 gedruckt wurde: Als Band 1 der „Werke von Karl Kraus“ im Kösei-Verlag. Am Ende jedes Bandes findet sich ein genaues Quellenverzeichnis, am Ende des letzten der sehr beachtlichen Essay „Dichtung und Satire bei Karl Kraus“ (41 Seiten) von Kurt Krolop sowie ein breit, aber leider unregelmäßig angelegtes Personenregister (55 Seiten): mit richtigen und unrichtigen Angaben, stellenweise auch mißverständlich textiert. Ein paar Beispiele: Burgtheaterdirektor „Burckard“ schrieb sich „Burck/iard“. Landgerichtsräte gab und gibt es nur in Deutschland; der „österreichische Landgerichtsrat“ v. Heidt war daher Landesgerichtsrat“. „Karl I. (1887 bis 1921)“ starb erst 1922. Kernstock war Chorherr von Voran, nicht von „Voran“. Die Satire auf den Expressionisten Georg Kulka betitelte Karl Kraus „Ein neuer Mann“ und nicht „Ein neuer Mensch“. Hans Rothe „schrieb Dramen,) Komödien, Hörspiele, Romane, Essays“, schön und gut, wurde aber von Karl Kraus nicht wegen dieser angegriffen, sondern wegen seiner vielgenannten, umstrittenen Shakespeare-Bearbeitungen. War Ludwig Speidel ein „österr. Schriftsteller“? Man möchte es gerne meinen, leider stimmt es nicht: Er stammte aus Ulm. Wagner von Jauregg „versuchte Paralyse durch Malaria-Impfung zu heilen“: Er „versuchte“ es nicht nur, es gelang ihm auch. Diese Liste ist beiweitem nicht vollständig.

Doch die Hauptsache bleibt der Text, den Karl Kraus seiner Zeit und ihrer fernsten Zukunft gelesen hat, also ein für allemal. Er störte ihnen den faulen Frieden, und gerade so ein gelungener Auszug dieses konsequenten publizistischen Kampfes „gegen die Alliierten der Zeit“ demonstriert nachträglich schlagend Berechtigung und Notwendigkeit jenes 30jährigen Guerillakrieges eines einzelnen gegen das Komplott der Zeitgenossen, die einander gegenseitig, in eigener Sache, Anständigkeit bezeugten. „Wann ersteht mir endlich der Widerpart, der nicht schon durch den Mut gegen mich geschwächt, beim Anlauf nicht unter das Niveau seines dümmsten Publikums hinuntertölpelt?“ Wann? Niemals. Auch nicht zum fünfunddreißigsten Todestag. Der hinterhältige Anschlag, inmitten eines zwanzig zeiligen Hinweises auf die dreibändige Neuausgabe, entbehrte nicht nur jeder Begründung, sondern auch des Mutes, für die freche Behauptung (sowieso nur unter einer Chiffre ver- lautbart) gradzustehen. Denn der im Motto dieser Rezension angeprangerte Satz geht ebenso feige wie sinnlos weiter: „… aber er war einer der scharfsinnigsten Menschen seiner Zeit.“ Niemand wird hienach behaupten wollen, TE sei ein scharfsinniger Mensch. Warum findet er die drei Bände begrüßenswert? Ein Polemiker nämlich, wenngleich „einer der scharfsinnigsten Menschen seiner Zeit“, von dem „niemand wird behaupten wollen“, er „sei ein gerechter Ankläger gewesen“, der verdiente so wenig überliefert zu werden wie die Bedeutung der Chiffre TE.

Kurzum, über Karl Kraus schreiben, heißt weiterpolemisieren; denn die TEs sind unter uns.

„AUSGEWÄHLTE WERKE.“ Von Karl Kraus. Drei Bände. Verlag Langen-Müller, München 1971.

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