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Nach vielen Tahren

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Ein Roman war lesenswert, könnte man sagen, wenn er es wenigstens ein Menschenalter nach seinem Erscheinen geblieben ist. Zweierlei nämlich könnte bis dahin seinen Reiz eingebüßt haben: Ein nichts als aktueller Inhalt, der später abgedroschen wirkt wie eine verjährte Ernte und gar nicht mehr informativ, aber auch der allenfalls formale Reiz einer literarischen Modeströmung, die mittlerweile verflossen ist. Nur die großen Beispiele bleiben bestehen und ragen ergreifend über die Zeiten, Wie ein gotischer Dom etwa noch heute die Vergangenheit gültig bezeugt.

Bei einem Zeitroman ist es schon eine Seltenheit, wenn er dreißig Jahre nachher noch erschüttert, und so ein Wunder ist „Dos siebte Kreuz“ von Anna Seghers, 1937 bis 1940 im Exil entstanden, 1943 zunächst in englischer Ubersetzung und erst 1946 in der damaligen Ostzone Deutschlands erschienen, 1962 auch im westlichen Verlag Luchter-hand und nun, 1973, als Taschenbuch herausgekommen. Der dauernde Streit in der Literatur, der Literaturkritik und der Literaturwissenschaft, wie ein Roman neuerdings beschaffen sein müsse, weicht diesem großartigen Werk gewöhnlich im ehrfurchtsvollen Bogen aus. Es unterwirft sich weder dem Gebot, nachweisliche Dokumentation gesellschaftlich relevanter Ereignisse zu sein, nooh genügt es den östlich des Eisernen Vorhanges geltenden Gesetzen eines sozialistischen Realismus. Er ist einfach und weit darüber hinaus das Dokument einer dichterischen Vision, die hellsichtiger war als sämtliche Augenzeugen, wiewohl Anna Seghers (1900 In Mainz geboren) Deutschland schon 1933 verlassen hat. 1947 kehrte sie zurück und lebt seither in Ost-Berlin. Schon 1928 ist sie der kommunistischen Partei beigetreten und scheint in ihrer Weltanschauung niemals unsicher geworden zu sein.

„Les ouvrages bien ecrits seront les seuls qui passeront ä la poste-rite“, hat Buffon trocken konstatiert, und „Das siebte Kreuz“ ist so eine gut geschriebene Arbeit. Im Ganzen eine Odyssee des 20. Jahrhunderts, freilich nicht eine lange Suche nach der Heimat, sondern im Gegenteil die Suche nach einem Ausweg, die Flucht in eine rettende Fremde. Die Handlung ist ins Jahr 1936 verlegt und setzt ein unmittelbar nach dem Ausbruch von sieben Häftlingen eines Konzentrationslagers. Dort werden sieben Platanen zu Kreuzen verunstaltet: für jeden Flüchtling eines. Binnen einer Woche werde man sie alle wieder haben, behauptet der Laigerkommandant, aber einer kommt durch, das siebte Kreuz bleibt leer. Genau eine Woche — in sieben Kapiteln — schildert das Buch. Montag früh hatte die Flucht begonnen, und etwa um die gleiche Tageszeit, sieben Tage später, überschreitet Georg Heisler die Rheiri-brücke und begibt sich auf einen holländischen Schleppkahn, wo er bereits erwartet wird. Das Hangen und Bangen der siebentägigen Flucht durch heimatliches Feindesland, das Hangen der Sechs und das glücklich endende Bangen des Siebenten, das ist der Roman „Das siebte Kreuz“, ist mit seiner breiten, subtil haßlosen Milieuschilderung der Roman einer beängstigenden Epoche.

Auch der Roman „Stiller“ von dem Schweizer Maa: Frisch ist ein Welterfolg geworden und geblieben. 1953/54 entstanden, im gleichen Jahr erschienen und nun auch als Ta-sohenbuch zu haben, stellt das Werk den typischen Schweizer, also den untypischen deutschen Sonderfall vor: Nie wird es trivial, nie verstiegen, hochwertigstes Lesefutter, das nur dadurch dem üblichen Vorwurf entgeht, eine kulinarische Lektüre zu bilden, weil es sich auch für den schlagfertigsten Kritiker als harte Nuß erweist. In unangreifbar runder Ironie bietet es sich dar und spottet allen Versuchen einer totalen Öffnung. Wer dennoch hinhaut, trifft sich selbst auf die Finger, es haut nie ganz hin mit diesem „Stiller“ von Max Frisch. Der geflnkelte Autor verweigert sich, wie seine Ro-manflgur, jeder hanebüchenen Agnoszierung.

Der Held der Geschichte ist ein moderner Held. Er wird bei der Einreise in die Schweiz arretiert und in Untersuchungshaft genommen, weil er leugnet, der zu sein, als den ihn jeder zu erkennen glaubt: der Künstler (Bildhauer) Anatol Ludwig Stiller. Sein amerikanischer Paß auf den Namen Namen White nützt ihm gar nichts. Der Büttel im Arrest und die Mithäftlinge, der Pflichtverteidiger und der Staatsanwalt, dessen Gattin sogar und erst recht die aus Paris herbeigeeilte Frau Stiller, Stillers Bruder und Freunde, ja die ganze Schweiz ist vom Kurort Davos bis in die Zelle hinein wohlmeinend und wohlwollend, exakt und-korrekt, wohlstandsbewußt und wohlanständig, auch zu einem Delinquenten, seine Verköstigung ist famos — nur widert ihn das alles an, er will partout kein Stiller und kein Schweizer sein. Und nicht einmal das macht Land und Leute rabiat, es befremdet sie bloß.

Mag es also um die Frage der Identität gehen, um einen Eheroman oder um den der heutigen Kontaktlosigkeit, egal: wir haben eine umwerfende Satire vor uns. Das gesamte Establishment, gegen das kein böses Wort gesagt wird, fällt um wie die Kegeln, gefällt von treffsicherer Ironie. Ein meisterhafter Streich.

DAS SIEBTE KREUZ. Von Anna Seghers. Sammlung Luchterhand, Darmstadt und Neuwied 1973. 435 Seiten.

STILLER. Von Max Frisch. Suhrkamp-Taschenbuch, Frankfurt am Main 1973. 441 Seiten.

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