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Nachmittag im Zenit des Lebens

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Jetzt freute auch er sich, daß er Jan diesem Wochenende daheim geblieben war. Seine Frau war glücklich, obwohl sie mit diesen gemeinsamen Stunden gar nichts anzufangen wußten, streckenweise auch nicht miteinander sprachen, sondern nur lasen, jeder in seinem Buch, dessen Titel der andere nicht wußte und nicht erfragte. Die Kleine war richtig überrascht, den Vater einmal für so lange Zeit zuhause zu sehen. Zwei volle Tage. Leider war Winter, draußen war es kalt, aber nirgends lag Schnee. Man konnte wenig anfangen mit diesem Wochenende, aber eine Chance war es trotzdem. Freilich gelang es dem Vater nicht, mit der Dreijährigen in engeren Kontakt zu kommen, er ließ sie ein wenig auf sich herumkrabbeln und las ihr aus einem Geschichtenbuch vor. Das genügte der Kleinen auch.

Fernseher hatten sie keinen, also war es still in der Wohnung. Jetzt am Nachmittag schlief die Tochter, und da war auch er mit

seiner Frau ins Bett gegangen. Gleich danach schlief sie ein. Er aber ging in die Küche und öffnete eine Flasche Wein. Er sollte nichts Alkoholisches trinken, ärztliches Anraten stand dagegen, seiner kranken Leber wegen. Vor Jahren hatte er sich in Marokko eine bösartige Hepatitis zugezogen, die er seitdem nur unvollständig losgeworden war.

Eine schwache Spätsonne brach in die Küche, er setzte sich an das geschlossene Fenster: da stand sie, ein dunkelroter Ball, in den er mit ungeschützten Augen blicken konnte.

Die Wintersonne stimmte ihn traurig. Jetzt wurde es schon wieder Abend, bald würde die Kleine aufwachen, eine Mahlzeit noch, einige Seiten Lektüre oder gar ein belangloses Gespräch, und dann die Nacht, der Schlaf, vor dem er sich seit seiner Kindheit fürchtete. Er versuchte, stets kunstvoller und erfolgreicher, das Schlafengehen hinauszuzögern, wie Kinder das tun, aber aus anders gearteten Gründen. Er scheute sich, wieder einen Tag abzuschließen, vielmehr fortzuwerfen, denn da lag ja der Grund für seinen Unwillen: abgeschlossen wurde nichts. Trotzdem kam ihm immer häufiger die Müdigkeit zuvor und zwang zum Verzicht auf die durchwachten Nächte.

Früher hatte er seine freien Wochenenden kaum erwarten können, aber dann fing er an, sich aus freiem Willen stets irgendwelche Aufgaben fürs Wochenende aufbürden zu lassen. Das war nicht schwierig, denn er arbeitete bei einer Zeitung. Die Kollegen waren ihm dankbar, wenn er sie vom

Journaldienst oder von einer Dienstreise befreite. Für dieses Wochenende aber hatte er keine Verpflichtungen angenommen, ein wenig auch seiner Frau zuliebe, die jeden Morgen beim Aufstehen um eine Spur trauriger wirkte. Dabei stritt sie derlei Stimmungen ab. Wenn er sie fragte, warum sie traurig sei, protestierte sie, aber er traute ihren Worten nicht.

Das kam wohl daher, weil er sich schuldig fühlte. Zum Unterschied von ihm, der sich gern selbst bemitleidete und von anderen bedauern ließ, verschloß seine Frau ihre Probleme vor jedem, zumeist auch vor ihrem so selten anwesenden Mann. Nur war ihr breites und hübsches Gesicht ein schlechter Schauspieler, man sah ihr die Sorgen gleich an.

Dann schämte er sich seiner Unfähigkeit, diesen lieben Menschen ein wenig glücklich zu machen. Es gelang ihm nur, stets neue Sorgen und Unsicherheiten in den Tag zu rufen. Er war ein Zigeuner, der nicht hätte heiraten sollen. Diese wiederkehrenden schmerzlichen Überlegungen! Jedenfalls war er froh, diesmal das Wochenende daheim zu verbringen. Er würde das von jetzt an öfter so einrichten, er nahm es sich wenigstens vor.

Wenn du weiterhin Alkohol trinkst, wirst du in zehn Jahren nicht mehr hier sein, hatte ihm der Arzt gesagt. Der Internist war ein Schulfreund vom Gymnasium her, daher die klare Sprache. Natürlich war der solcherart Gefährdete kein Alkoholiker. Aber er hatte sich in Frankreich, wo er studiert hatte, das permanente mäßige Trinken als Lebensart angewöhnt: immer Wein, immer zuerst einen Aperitif und danach einen kleinen Cognac, Fruchtsalat und anderes Zeug natürlich mit „Schuß", lauter Kleinigkeiten, die seiner geschädigten Leber Gift waren. Trotzdem griff der Verwarnte täglich zu seinem Wein.

Er war nicht leichtsinnig, der Leichtsinn gehörte nicht zu seinen Eigenschaften, nein, nein, er war sich der möglichen Folgen seines Sichgehenlassens wohl bewußt. Es war die Lockung zum schlimmen Ausgang, der er nicht widerstehen konnte. Wegen der Fettleber wirkte er aufgeschwemmt, er hatte jegliche körperbezogene Eitelkeit seit geraumer Zeit auf ge-

geben. Seine Frau liebte ihn trotzdem, treu, aber sie machte sich Sorgen um ihn, und der Arzt, sein Schulfreund, bemerkte spöttisch: weh tut so etwas erst gegen das Ende zu, das ist dein Glück bei der leidigen Sache...

Die Sonne war längst untergegangen und es wurde jetzt grau in der Küche. Er warf einen kaum erkennbaren Schatten, vage, nicht scharf umgrenzt, wie er so auf dem Holzsessel saß. Der Wein schmeckte ihm nicht, trotzdem

füllte er sein Glas zum zweiten Mal.

Nur noch fünfzehn Stunden, die meisten davon an den Schlaf verloren, und er würde sich auf den Weg machen in die Redaktion.

Ihm, dem besessenen Redakteur, der noch abends und sonntags Arbeit auf sich lud, graute plötzlich bei dem Gedanken an den nächsten Tag. Mit einer Klarheit, die ihn würgte, wußte er plötzlich, daß er seine Tätigkeit haßte. Er hatte viel zu lange etwas getan, das seinem Wesen zuwider war. Journalismus, das Suchen, Vorkauen und Weiterreichen der sogenannten Aktualität, was konnte es Dünneres, Hilfloseres geben? Er war der Mann mit dem denkbar verfehltesten Beruf. Er konnte aufzählen, was immer an Berufen ihm in den Sinn kam: Priester, Weltraumfahrer, Zuhälter, Schafhirte, alles paßte besser zu ihm als seine Tätigkeit, in der er sich durch jahrelange harte Arbeit sogar profiliert hatte. Nein, ich will morgen nicht mehr in die Redaktion gehen, durchfuhr es ihn.

Zugleich fiel ihm ein, daß in seinem Dienstvertrag eine Kündigungsfrist vermerkt stand, die er einzuhalten gezwungen wäre. Dann bedachte er, daß er f inanzi-

eil vor dem Nichts stünde, wenn er seine Position aufgab. Ein Berufswechsel stand ja nicht zur Debatte, er wollte aufhören, unbedingt aufhören. Er war verheiratet, hatte ein Kind. Seine Frau hatte erst gestern eine Anspielung gemacht; vielleicht war sie schwanger, es war gut möglich. Das alles zuckte durch seinen Kopf, aber er mußte diese solid gebauten 'Einwände verwerfen. Oder nein, nicht verwerfen, vielmehr voll und in ihrer ganzen Schwere ins Bewußtsein aufnehmen und dann bei seiner Entscheidung beiseite lassen. Was sollte ihm die Kündigungsfrist? Wenn einer etwas vorhat, muß er es gleich verwirklichen, da gilt kein Vertrag mehr.

Es ekelte ihn vor seiner Vergangenheit, seiner Gegenwart, seinem Leben: diesem dreifachen Fehler, „mein" gesagt zu haben. Ihm gehörte gar nichts, er hatte sich längst schon aus der Hand gegeben. Er hatte alles falsch angepackt, bisher, ab heute wollte er richtig handeln. Er hatte gerade beschlossen, die Existenzgrundlage seiner Familie und seiner selbst hinzuwerfen, unendlich unverantwortlich zu sein, und fühlte sich doch wie ein Bekehrter vom seltenen Schlag des Paulus. Das Beispiel benagte ihm nicht, aber es fiel ihm kein besseres ein.

Er stand auf und ging in den Vorraum, wo seine Jacke hing. In der Innentasche steckte sein Portefeuille, er entnahm den Presse-Ausweis und zerriß ihn zu fingernagelgroßen Fetzchen. Dann kehrte er in die Küche zurück und trank den Wein zu Ende.

Seine Frau und seine Tochter schliefen noch immer. Fast beunruhigte ihn dieser lange Nachmittagsschlummer. Es war ein wenig zu still in der Wohnung, deren Miete er im nächsten Monat schon nicht mehr bezahlen könnte. Ersparnisse hatte er keine, derlei Illusionen von Sicherheit galten ihm nichts. Er fühlte den spontanen Wunsch, zu seiner schlafenden Frau und zu seiner Tochter zu eüen, um sich zu vergewissern, daß die beiden auch atmeten. Dann würde er die Frau wecken und über seinen Entschluß in Kenntnis setzen. Aber schon besann er sich, das hatte ja Zeit, das war nicht dringend, betraf immerhin ein langes Leben. Das Leben gähnt endlos, so oder so.

Nicht gleich reden, überlegte er. Endlich man selbst sein, nicht länger eine Maschine, die mehr oder weniger gut funktioniert. Es ablehnen, programmiert zu werden. Diesen Schritt konnte nur der tun, der alle Vernunft von sich warf. Es wäre ein Sieg, und vielleicht eine Chance. Die einzige, die erste, die letzte.

Der Himmel blühte jetzt im Westen wunderbar rotviolett. Man konnte vergessen, daß Winter war.

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