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Digital In Arbeit

Nachruf gewünscht?

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Im Gebäude, in dem die Redaktion untergebracht war, ging wieder einmal der Aufzug nicht. Der alte Journalist macht sich zu Fuß auf den Weg. Es machte ihm nichts aus, er konnte sich wenigstens wieder einmal von seinem ausgezeichneten Gesundheitszustand überzeugen. Mit einem wahren Triumphgefühl erklomm er die vierte Etage.

Er teilte das Zimmer mit einem Kollegen. Beide waren längst im pensionsreifen Alter. Und beide wurden aus Gründen der Pietät nicht pensioniert. Oder genauer gesagt - dachte er, - der Kollege würde aus Pietät behalten, und er selbst, da sie ohne ihn nicht auskommen. Er würde eine Leere hinterlassen.

Sein Kollege war noch nicht da. Das war gut so. Er nahm, wie es seine Gewohnheit war, das Taschentuch, wischte den Schreibtisch sauber, rückte die uralte Remington zurecht (seit Jahren kämpfte er vergeblich um eine moderne Schreibmaschine), zog die Zigarrenschachtel aus der Tasche, legte sich die Zündhölzer zurecht und brachte sich in die richtige Positur. Er rauchte noch nicht. Er gönnte sich den ersten Zug erst nachdem er mit dem ersten Absatz fertig geworden war. Als Belohnung. Und bis er die Zigarre zu Ende geraucht hatte, mußte auch der Artikel fertig sein.

Er begann auf die Tasten zu klopfen. Der Triumph im Stiegenhaus gab der Arbeit neuen Schwung. Seit langen Jahren verfaßte er Nachrufe. Für sein früheres, ihm auf den Leib geschneider-tes Metier war er zu alt geworden. Er war ein rasender Reporter gewesen, bei jeder Feuersbrunst, Überschwemmung, bei jedem Erdbeben und politischen Mord gleich dabei. Er hatte niemals aus zweiter Hand gearbeitet, hatte keine Berichte verwendet, er hatte immer nur geschrieben, was er mit den eigenen beiden Augen selbst gesehen hatte. Darin lag das Geheimnis seines Erfolgs.

Er besaß auch ein gerütteltes Maß an Unbarmherzigkeit: die kühle Distanz des guten Beobachters, dessen Blick

kein einziger versteckter Fehler, kein einziges Muttermal entgehen konnte. Diese Eigenschaft kam ihm auch in seinen Nachrufen zugute. Er legte das Leben des prominenten Toten unter das Skalpell. Mit Hilfe seines ausgezeichneten Gedächtnisses brachte er es zustande, die eine oder andere charakteristische Episode aus dem Ganzen des Lebens herauszutrennen und wie ein Chirurg aufzuzeigen: hier lag das Geheimnis!

Er machte nach dem ersten Absatz einen Punkt. So, jetzt konnte man endlich rauchen. Mit großer Sorgfalt

wählte er die beste Zigarre aus. Er drehte sie zwischen den Fingern hin und her. Die Zigarre knarrte leise. Das Zündholz ließ ein gesundes Krachen hören. Ja, er hatte alles in allem einen guten Tag! Er durchspülte den Mund mit dem duftigen Zigarrenrauch und setzte die Arbeit in bester Stimmung fort. Er war gerade dabei, die seltsame Körperhaltung des Verstorbenen zu beschreiben. Starke Wirbelsäulenverkrümmung. Er machte daraus eine hübsche Stilblüte: Ein krummes Rückgrat, aber ein grader Charakter!

Seit fast zwanzig Jahren schrieb er nichts anderes als Nachrufe. Mit der Zeit wurde ihm sein Spezialgebiet zur wahren Leidenschaft. Eigentlich hielt er sich weiterhin für einen Reporter: er berichtete über den Tod. Seine Berichte waren voll Farbe und voll Bewegung.

Es passierte selten, daß er, wie diesmal, über einen Jüngstverstorbenen schreiben mußte. Aber mit diesem da hatte er irgendwie nicht gerechnet. Es gibt solche Schaltfehler im Leben. Seit langen Jahren führte er gewissenhaft Buch über das Alter und den Gesundheitszustand von Schriftstellern, Künstlern, Journalisten, Wissenschaftlern und Politikern. Er befaßte sich mit komplizierten Wahrscheinlichkeitsrechnungen, um seine Nachrufe rechtzeitig und auf Vorrat zu schreiben. Er wollte niemandem Böses, aber er war für methodische Arbeit. Er spürte in sich immer noch den alten Schwung. Wenn die Todesfälle mit seiner Arbeitsleistung nicht schritthalten konnten, mußte er wohl oder übel für den zukünftigen Bedarf produzieren.

Seine Leidenschaft war in der Redaktion allen bekannt. Und obwohl er niemandem Böses wollte, betrachtete er alle, denen er bereits einen Nachruf gewidmet hatte, als seine eigenen Toten, deren Verlust er auch aus persönlichen Gründen zu betrauern hatte. Wenn er solchen für ihn abgeschlossenen Personen begegnete, schlug er einen gewissen salbungsvollen Ton an, den die jeweiligen Gesprächspartner entweder nicht bemerkten oder sich nicht erklären konnten. Aber wenn er sich an einen Kollegen mit der Frage wandte, „Wie geht's dir?" dann hatte das einen drängenden Beiklang, und der Kollege antwortete nicht mit einem üblichen „Danke, gut", sondern brachte aus trockener Kehle die nervöse Frage hervor: „Warum? Sehe ich so schlecht aus?"

Er hatte den Nachruf beendet und las ihn durch. Der Artikel war voller Schwung. Der Text war frei von jeder Art von Schadenfreude, aber man spürte trotzdem: der Verfasser freute sich, daß nicht er, sondern ein anderer gestorben war.

Er zerdrückte die Zigarre, sammelte die Seiten zusammen und machte sich auf den Weg zum Chefredakteur, um den Artikel zu überreichen. Die Sekretärin war nicht auf ihrem Platz, die Tür zum Zimmer des Chefredakteurs stand offen. Das Zimmer war leer. Er ging zum Schreibtisch des Chefredakteurs und legte das Manuskript auf die Tisch-

platte. Dann erblickte er seinen Namen auf einem Bogen Papier. Was konnte das sein? Vielleicht eine Auszeichnung? Er konnte der Versuchung nicht widerstehen, nahm das beschriebene Papier und begann zu lesen.

Plötzlich fühlte er sich sehr schwach. Es war ein Nachruf. Verfaßt vom Chefredakteur - über ihn. Auf Vorrat. Seine Verdienste wurden mit bewegten Worten gerühmt. „Eine einzigartige Er-

scheinung des Journalismus ist uns durch den grausamen Tod entrissen worden", so lautete der letzte Satz.

„Grausamer Kerl", brummte der alte Journalist vor sich hin. Der Papierbogen in seiner Hand zitterte. Er hätte nie vermutet, daß es Leute gab, die insgeheim derart unmenschlich sein konnten.

Er ging aus dem Zimmer des Chefredakteurs hinaus ins Stiegenhaus. Der Aufzug war in der Zwischenzeit offenbar repariert worden. Er blieb gerade in der vierten Etage stehen. Aus der Kabine schlurfte der alte Kollege hervor. „Ich gehe nach Hause, ich fühle mich nicht wohl", sagte der alte Journalist und stieg in den Aufzug. Es war das erste Mal, daß er den Aufzug für die Fahrt nach unten benützte.

Als er endlich auf der Straße stand, blickte er sich um. Er hatte das Gefühl, er würde das Gebäude nie mehr wiedersehen.

(Aus „Begegnung mit einem halben Hund", Budapest 1980)

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