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Nachts regiert die Angst

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Ich betrat ein typisches New Yorker Apartmenthaus, um eine alte Dame zu besuchen, die Mutter eines Wiener Freundes. Eine geringfügige Differenz in der Aussprache ihres für amerikanische Ohren ungewohnten Namens führte zu einer viertelstündigen Kontroverse, denn der Wachposten in der Halle konnte den Namen in der Liste jener Hausbewohner, die gemeldet hatten, daß sie an diesem Nachmittag Besuch erwarteten, zunächst nicht finden. Erst nach restloser Klärung des Falles — und selbstverständlich nochmaliger telephonischer Rücksprache — durfte ich in Begleitung eines pistolenbewehrten Wachmannes mit dem Lift nach oben fahren.

Ein Deutscher, der bei einer amerikanischen Werbeagentur arbeitet, erzählte mir beiläufig, während wir an den leeren Schreibtischen hinausgeworfener Mitarbeiter vorbeigingen, warum an diesem, Tag alle Terminpäne durcheinander seien: Es habe wieder einmal Eom-benalarm gegeben, und das ganze Haus (mit 30 Stockwerken) sei für einige Stunden geräumt worden. „Aber das ist schon Routine”, setzte er hinzu, „das ist zeitweise schon fast jede Woche vorgekommen.”

Eines Abends sah ich mir eine der geradezu legendären Shakespeare-Aufführungen im Freilufttheater im Central Park an: Drei Königsdramen an einem Abend, rücksichtslos zusammengestrichen auf einen „harten Kern” von Bluttaten, Gewalt und Infamie, eine grandiose Spiegelung dessen, was New Yorks Bürger in den vornehmen Vierteln rundum nachts nicht ruhig schlafen ließ. Nach der Vorstellung strömte das Publikum zur kaum hundert Meter entfernten U-Bahn-Station, ein Spalier von bewaffneten Polizisten hielt Wache auf dem Weg dorthin.

Auch auf dem Bahnsteig hält nachts immer ein Policeman Wache — im Zug ist man allein, das heißt allein unter Schwarzen.

Auch im Stadtzentrum ist man am späten Abend allein unter Schwarzen, bettelarmen Weißen und weißen und schwarzen Bettlern, auch am

Fuß des Empire State; die New Yorker warnen davor, den Weg vom Empire State, dem nun nicht mehr höchsten Gebäude der Welt (das unfertige World Trade Center ist bekanntlich bereits höher) zum Hotel New Yorker nachts allein und zu Fuß zurückzulegen, aber das ist zweifellos übertrieben. Allerdings, ein gedruckter Zettel an der Innenseite der Zimmertür im Hotel erinnert sodann an die Notwendigkeit, nicht nur abzuschließen, sondern dafür zu sorgen, daß auch die Sicherungskette verläßlich eingerastet ist.

Wer sich nicht davon abhalten läßt, das nächtliche New York zu Fuß und allein kennenzulernen, tut gut daran, sich an einige Faustregeln zu halten, so zum Beispiel: Nicht zuviel Geld, aber auch nicht zuwenig Geld (also rund 50 Dollar) bei sich zu haben. Denn ein Räuber, der zuviel in der Brieftasche findet, könnte es für richtig halten, den Beraubten umzubringen, damit er nicht etwa nachher von ihm identifiziert werden kann. Ein Räuber, der nichts oder ein paar Dollar bekommt, schlägt leicht aus Wut und Enttäuschung zu. 50 Dollar — kein realistischer New Yorker geht deswegen zur Polizei, kein realistischer New Yorker Wegelagerer hat Angst, sein Opfer könnte deswegen zur Polizei gehen.

Auch Wohnungseinbrüche führen kaum noch zu polizeilichen Ermittlungen, sie sind längst zu häufig geworden und die Zahl der Polizisten und Kriminalbeamten ist zu klein. New York hat acht Millionen Einwohner, die Zahl der Kapitalverbrechen wächst pro Jahr um rund 50 Prozent (!), im Jahresdurchschnitt werden allein in New York täglich mehr als drei Menschen ermordet und sechs Frauen vergewaltigt.

Zu jedem Zeitpunkt des Tages und der Nacht sind durchschnittlich 4000 Polizisten auf New Yorks Straßen unterwegs. Aber New Yorker Polizisten haben wenig Tendenz, als Märtyrer der öffentlichen Sicherheit zu sterben.

Aus diesem Grunde grenzen die paar Schritte von den Apartmenthäusern der Millionäre in der Fifth Avenue von der 60. Straße aufwärts quer über die Straße hinein in den Central Park nach Einbruch der Dunkelheit an Selbstmord, es sei denn, man sieht so aus wie einer, dem niemand mehr etwas wegnehmen kann. Denn bis Mitternacht ist die Polizei zwar verpflichtet, Streifenfahrten durch den Central Park durchzuführen, doch ziehen es die meisten Streifenmänner vor, an einem sicheren Ort in ihren Fahrzeugen zu schlafen. Nach Mitternacht sind sie auch offiziell nicht mehr verpflichtet, diesen gefährlichen Dschungel im Zentrum der größten Großstadt der Erde zu betreten oder zu befahren. Es ist zu gefährlich.

Auf einem der Photos auf dieser Seite weist ein Polizeibeamter mit einem Kugelschreiber auf eine Einschußöffnung in einem Wagen — in diesem Fahrzeug starben zwei Polizisten, heimtückisch erschossen während einer Streifenfahrt. Sie saßen nebeneinander auf ihren Plätzen — offenbar also keineswegs mit einer Amtshandlung befaßt. Die Tat ereignete sich in einer Großstadt, die als eine der sichersten in den USA gilt, Zerschossenes Polizeiauto (in San Franzisko): Märtyrer der öffentlichen nämlich in San Franzisko. Sicherheit Photos: Butterweck

Auf einem anderen Bild photogra-phiert ein alter Pressephotograph einen Revolver, mit dem ein Polizeibeamter erschossen wurde — als junger Kriegsberichterstatter

„schoß” er das weltbekannte Photo von der Hissung des Sternenbanners auf der eben von den Amerikanern eroberten Insel Ivo Jima, heute arbeitet er als „Kriegsberichterstatter” im Krieg zwischen Amerikas organisierter Unterwelt und Amerikas Außenseitern auf der einen und Amerikas Exekutive und Bürgern auf der anderen Seite, einem Krieg, der von beängstigender Eskalation der Brutalität auf beiden Seiten gekennzeichnet ist.

Der „San Francisco Examiner”, für den der Photograph Rosenthal arbeitet, unterscheidet sich in seiner gesamten Grundhaltung, in seiner gesamten Beurteilung der amerikanischen Politik sehr deutlich von der zweiten in San Franzisko erscheinenden Zeitung, dem „Chro-nicle”, aber beide Zeitungen trennen Welten von jenem Schockblatt, jenem Gänsehautblatt namens „Black Panther”, das die ganze Verzweiflung und den ganzen Haß der militanten amerikanischen Schwarzen artikuliert. Welten zwischen dem Angebot des „San Francisco Police Department”, zu Höchstgehältern die Polizeimütze aufzusetzen und law and order zu dienen, und der für viele andere typische „Panther”-

Karikatur eines Polizisten, der einen Schwarzen erschießt. Nicht nur die Black Panther, sondern die Insassen der amerikanischen Ghettos weithin, bezeichnen Amerikas Polizisten kaum noch anders denn als „pigs” oder „white pigs” — und so mancher Polizist wird, einem alten psychologischen Gesetz folgend, dieser Erwartungshaltung gerecht. Polizisten-Image bei den Schwarzen? Schießwütige Berserker.

Das Polizisten-Image bei Amerikas Weißen: Bestechlich und ohnmächtig. An beidem ist einiges dran. Amerikas Polizisten sind kaum brutaler als Polizisten fast allüberall auf der Welt, wenn sie in Streß-Situationen losgelassen werden, der Beispiele dafür gibt es viele. Aber Amerikas Polizeiapparate erwiesen sich häufig als besonders anfällig für Bestechungsaktionen, und erst vor kaum anderthalb Jahren ging Amerikas mächtigste Polizeigewerkschaft, die „Wohltätigkeitsvereinigung” der New Yorker Polizisten, vor Gericht, um New Yorks Stadtverwaltung jede Untersuchung bekanntgewordener Korruptionsfälle (oder Verdachtsfälle der Korruption) in der New Yorker Polizei rundweg verbieten zu lassen.

Leider ist der Ohnmacht der amerikanischen Polizei zu steuern, wenigstens im privatwirtschaftlichen Bereich. Amerikas Geschäftswelt läßt sich heute von einer Vielzahl privater Polizeiformationen bewachen. Einen Block von der Fifth Avenue und dem Central Park entfernt, in der Madison Avenue, weit oberhalb der ehemaligen Madison Avenue der Werbeagenturen, macht tagsüber eine Truppe von Polizisten Dienst, die von den ansässigen Geschäftsleuten angeheuert wurden, um die Sicherheit dieser Gegend wenigstens während der Geschäftszeit zu gewährleisten.

Firmen, die Sicherheit für teures Geld verkaufen, schießen wie Pilze aus dem Boden, und die eingesessenen Großen der Branche namens

Sicherheit registrieren traumhafte Umsatzsteigerungen. Die berühmte Detektivflrma Pinkertons meldete schon vor zwei Jahren einen Rekordumsatz von weit über drei Milliarden Schilling, ein Branchenneuling, der von zwei ehemaligen Polizeidetektiven und einem Reporter von den „Daily News” gegründete IBI Security Service, vergrößerte seinen Personalstand in vier Jahren auf 1000 Mann. Völlig branchenfremde Firmen mischen mit. Die Astrophysics Research Corporation entwickelte einen Sprengstoffdetektor, der in der Lage sein soll, Dynamit auf fünf Fuß Entfernung anzuzeigen (hoffentlich auch Plastiksprengstoff!) und das KMS Technology Center warf ein handliches Gerät auf den Markt, das die Fingerlinien eines Menschen blitzschnell mit den zu Identifizierungszwecken in seinem Ausweis angebrachten Fingerabdrücken vergleicht.

Sicherheit ist heute Mangelware in den USA und wird es bleiben. Nicht nur Moden und technische Innovationen, sondern auch der Know-how sowohl der Unterwelt als auch des politischen Underground sind heute allgegenwärtig. Amerika exportiert sein Gangsterwesen und importiert, wider Willen, die Stadguerilleros.

Als Resultat droht das Leben in vielen Großstädten der Erde gefährlicher, gewaltsamer, rüder und in weiterer Konsequenz weniger lebenswert zu werden. Die tieferen Wurzeln dieses Prozesses findet jeder beim jeweiligen anderen.

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