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„Nachverhandlung” ohne Chance

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Ausgerechnet die Bonner Regierung, deren Kanzler den Maastrichter Vertrag für so wichtig wie die Vereinigung der Deutschen hält, kann noch immer nicht die Ratifikationsurkunde in Rom hinterlegen. Denn Richard von Weizsäcker folgte einem Rat des Karlsruher Bundesverfassungsgerichts.

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Ausgerechnet die Bonner Regierung, deren Kanzler den Maastrichter Vertrag für so wichtig wie die Vereinigung der Deutschen hält, kann noch immer nicht die Ratifikationsurkunde in Rom hinterlegen. Denn Richard von Weizsäcker folgte einem Rat des Karlsruher Bundesverfassungsgerichts.

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Der Bundespräsident unterschrieb zwar „Maastricht”, gab aber das Dokument in die Wiedervorlage. Erst nach einem Urteil des höchsten deutschen Gerichts soll der Akt nach Rom gehen.

Bundestag und Bundesrat hatten den Vertrag über die „Europäische Union” nahezu einstimmig gebilligt, wenn auch viele Redner einzelne Mängel rügten. Damit verhielt sich das deutsche Parlament nicht anders als fast alle anderen nationalen Volksvertretungen. Dann aber klagten in Karlsruhe eine Reihe von einzelnen Bürgern und vier deutsche Grüne aus dem Europäischen Parlament. Politisch wirkt die Gruppe höchst buntscheckig. Sie reicht von rechtsgewirkten „Republikanern” über den Ex-EG-Beamten und Medienstar Manfred Brunner bis zu Leuten, die zwar die „Union” wollen, aber „nicht mit derart schlimmen Demokratiedefiziten”.

Wo sich die Kläger treffen

Mit den Republikanern wollen sich Deutschlands nationalkonservative Publizisten oder der immer wieder Frankreich anklagende „Spiegel”-Herausgeber Rudolf Augstein nicht gemein machen, aber doch mit dem Nationalliberalen Brunner, der Kennern der Brüsseler Szene schon lange vor seiner Entlassung aus EG-Diensten als Gegner einer Fortentwicklung des supranationalen Europas auffiel.

Der Bayer fand in dem Erlanger Professor Karl Albrecht Schachtschneider einen eloquenten Anwalt der These, Deutschland werde sich in der Europäischen Union wie Zucker im Kaffee auflösen, träte erst Maastricht unverändert in Kraft. Kläger Brunner will die EG auf dem heutigen Entwicklungsstand festhalten und weicht gern dem Argument aus, daß die vierzigjährige Entwicklung von EG-Recht allein schon längst die Souveränität alten Stils ad absurdum führte. Die Bundesregierung wiederum beruft sich darauf, daß Deutschland mit ausdrücklicher Erlaubnis der Verfassung (Artikel 24) seit 1950 immer wieder Teile seiner Souveränität auf die Gemeinschaftsebene transferierte.

Die rechten Kläger lassen dies nicht gelten und verweisen auf Vertragsbestimmungen wie die zur Währungsunion. Habe nicht Helmut Kohl gerade in dieser Sache immer wieder von „Unumkehrbarkeit” gesprochen? Na also, und das zeige, daß der deutsche Staat schrittweise „und im Kernbereich der Staatlichkeit” zugunsten von „Brüssel” demontiert werde. Die Kommentatoren auf der Seite der Kläger, voran „Die Welt”, erklären ihren Lesern nicht, weshalb sich in Staaten wie Frankreich, Spanien oder den Niederlanden kein Beschwerdeführer von Gewicht fand, der Maastricht als Anfang vom Ende dieser souveränitätsbewußten Staaten beschrieben hätte. Im Gegenteil, man hat da und dort erklärt, der Vertrag liefere die Staaten nicht Brüssel, sondern einem Diktat der Deutschen aus.

An einer Stelle treffen sich freilich linke und rechte Kläger, ja man darf sagen, daß sie sich dort sogar nahe den Wünschen der Bundesregierung bewegen. Sie beklagen nämlich mit unterschiedlicher Akzentuierung das Demokratie- und Transparenzdefizit des Vertrags.

Man erinnere sich: als die EG im Dezember 1990 in Rom die Regierungskonferenz zur Ausarbeitung des späteren Unionsvertrags einsetzte, begann Helmut Kohl mit seinen Erklärungen über die „Balance im Vertrag”. Er wolle, so betonte er, nichts auf dem Gebiet der gemeinsamen Wirtschafts- und Währungspolitik akzeptieren, wenn nicht gleichzeitig mit dem „Komplott der nationalen und Brüsseler Beamten ohne Kontrolle durch das Europäische Parlament” aufgeräumt werde. Am Ende kamen Kohl und seine Freunde bei den Briten und Dänen nicht durch: Brüssel siegte sozusagen über Straßburg. Immerhin, die Mehrheit der Gipfelherren hat in Maastricht und auf späteren Treffen betont, die auf 1996 terminierte „Revisionskonferenz” solle die Mängel im Entscheidungsprozeß der EG beseitigen.

Die Karlsruher Richter müssen jetzt erst einmal über einen Antrag der deutschen Regierung entscheiden, der alle Individualbeschwerden von Brunner und anderen für unzulässig erklärt. Brunner dagegen betont, er sei in seinen Grundrechten deshalb bedroht, weil der Bundestag seinen, Brunners, Wählerauftrag nicht vollziehen könne, gebe das Parlament sich doch in die Hände des Brüsseler Apparats. Läßt Karlsruhe aber die Klagen oder einige davon zu, kommt das Gericht in die Klemme. Die Bonner trugen nämlich mit Vehemenz vor, welche Einbußen nicht nur der EG drohten, wenn die Deutschen die Union platzen ließen. Und außerhalb des Gerichts betonen die Vertreter der Regierung, wie weise doch das Gericht immer gehandelt habe, wenn es in die Außenpolitik gezerrt würde. Man erinnere nur an die Klagen gegen die Ostverträge.

Im Oktober ist alles durch?

Die ersehnte Zurückhaltung, der „judicial self-restraint”, trat freilich gerade in diesen Wochen nicht immer zutage. Die Verfassungsrichter waren mit den Flügen Deutscher in AWACS-Flugzeugen über Serbien und einer SPD-Klage gegen den Somalia-Einsatz der Bundeswehr befaßt. Privatleute sind die Richter aber irgendwo auch, und so wurde ihre stille Wut über die Verschiebung der Außenpolitik von Bonn nach Karlsruhe ruchbar.

Was könnte am Ende geschehen? Das, womit Bonn rechnet: Erlaubnis zur Hinterlegung der Ratifikationsurkunde, doch begleitet von gezielten Ratschlägen an den Bundestag: Wie das Gericht oft Rat erteilt, wenn es eine Gesetzesnovelle zur Sicherung von Verfassungsmäßigkeit erreichen will, so könnte es den Versuch machen, eben jene Revisionskonferenz von 1996 zum Prüfstein der Bonner Politik zu machen.

Würde das Gericht einzelne Teile des Vertrags für verfassungswidrig erklären, dann kann das nicht stattfinden, was leider viele für möglich halten: eine „Nachverhandlung”. So ist sich Kohl ziemlich sicher, daß „alles läuft, aber mit einer Sammlung von Fußnoten”. Eigentlich müßte er sie wünschen, beklagt gerade doch er das Demokratiedefizit.

Bonns Signale an die EG sind von Optimismus geprägt. Die Kohl-Berater glauben fest: „Im Oktober ist alles bei uns und den Briten durch. Dann wird der Vertrag umgesetzt.”

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