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Nachwuchssorgen in Osteuropa

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Der Kommunismus hat Nachwuchsprobleme — und zwar im eigentlichen Sinn des Wortes. Mit Ausnahme des katholischen Polen verlieren die Regime Osteuropas die Schlacht an den Wiegen und Kinderbettchen. Mit sozialen und oft auch tief ins persönliche Leben eingreifenden staatlichen Maßnahmen will man eine Trendumkehr an der „Babyfront” erzwingen.

Die jüngste Alarmmeldung kam dieser Tage aus Ungarn. Die fertiggestellten Statistiken der

Demographen für das Jahr 1984 wiesen nach, daß die Magyaren wiederum geschrumpft sind. Nur 125.000 Kinder wurden im 10-Mil-lionen-Land ans Licht der sozialistischen Wirklichkeit gebracht, 2000 weniger als im Vergleichsjahr 1983.

Sollte diese Entwicklung anhalten, hätte das rote Ungarn bis zum Ende des Jahrhunderts um 200.000 Einwohner weniger als heute.

Die Regierung und auch die Partei haben daher jetzt ein langfristiges Programm auszuarbeiten begonnen, um die Geburtenfreudigkeit im Lande zu steigern:

# Erweiterung der Urlaubs-, Freizeit- und Teilzeitbeschäftigungsmöglichkeiten für erwerbstätige Mütter mit dem deklarierten Endziel: „Familie und Mutter spielen bei der Betreuung und Erziehung der Kinder sowie ihrer Sozialisation eine unersetzliche Rolle.”

# Mutterschafts- und Familienbeihilfen sollen erhöht werden, sodaß eine echte Teuerungsabgeltung erreicht wird.

# Die hohe Säuglingssterblichkeit soll durch eine erweiterte medizinische Betreuung der Schwangeren und Mütter, die besonders auf Früherkennung und

Prophylaxe ausgerichtet werden soll, gesenkt werden.

So scheint also die kommunistische Regierung mit allen Mitteln entschlossen zu sein, der Prophezeiung des alten Herder, die Ungarn seien von baldigem Aussterben bedroht, zweihundert Jahre später zu widerlegen.

Im benachbarten Rumänien ist seit Jahren das Kinderkriegen zur ersten und edelsten Bürgerpflicht dekretiert worden und die kinderreiche Familie gilt heute als „Bollwerk des Sozialismus”. Die Abtreibung, einst in Rumänien die fast einzig mögliche und auch beliebteste Form der Geburtenverhütung, ist heute parteioffiziell so gut wie geächtet. Trotzdem wurden 1983 in Rumänien immerhin noch 421.000 Abtreibungen legal durchgeführt, 1984 waren es sogar 460.000.

Dabei hatte die Kampagne gegen die Abtreibung Formen angenommen, die drastisch in den Intimbereich eingriffen. So wurde im Frühjahr 1984 im Zuge einer regelrechten Jagd auf Frauen, die Abtreibungswünsche geäußert hatten, in der Textilfabrik „con-fex” 17.000 weibliche Angestellte zwangsweise gynäkologisch untersucht.

Wer in Rumänien schwanger ist, dessen Bauch wird nicht mehr aus dem Auge gelassen. Wird Schwangerschaft nämlich festgestellt, so muß die Karteikarte darüber bei jedem Amt, jeder Untersuchung vorgelegt werden. Ärzte, die illegale Abtreibungen vornehmen, bekommen 25 Jahre Haft, im Wiederholungsfall kann auch Todesstrafe verhängt werden.

Auch Bulgarien kämpft mit demographischen Problemen, und der Traum der Kommunisten „von zehn Millionen Bulgaren” scheint vorerst nur nebelferne Utopie zu sein. Eine der Maßnahmen, um den Balkanstaat zu bevölkern, ist ein neues Familiengesetz, das seit November 1984 in Kraft ist.

Ein Ausbrechen aus der Ehe wird nun sehr schwer, denn die Eheleute sind jetzt gesetzlich verpflichtet, mindestens vier Jahre lang den „Bund fürs Leben” zu halten. Die Scheidungsgebühren wurden verfünffacht, Alimentenzahlungen erhöht. Der richterliche Spruch, der zur Scheidung führt, muß im Detail dem Betrieb, dem Arbeitskollektiv und den Nachbarn zur Kenntnis gebracht werden — eine unter Umständen peinliche Sache.

An eine Erschwerung der legalen Abtreibung ist nicht gedacht in Bulgarien - obwohl die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche um die 150.000 jährlich pendelt.

Die schwachen Geburtenraten in der UdSSR, die freilich noch immer ein absolutes Bevölkerungswachstum zulassen, bereiten auch dem Altherren-Klub im Kreml Kopfzerbrechen. Mit „materiellen Anreizen” - etwa 100 Rubel Prämie ab der Geburt eines zweiten oder dritten Kindes oder zinsenlosen Kredit bis 1500 Rubel für ein junges Ehepaar — will der Staat nun an der Wiegenfront Erfolge erreichen.

Das Problem der bewußten Ehelosigkeit greift — besonders bei Frauen—immer mehr um sich. Nur in den nichtrussischen Gebieten der UdSSR ist die Geburtenfreudigkeit weiter recht hoch; sie verschönern das statistische Gesamtbild.

Auch die letzten verfügbaren Zahlen aus der CSSR signalisieren, daß sich alle partei- und regierungsoffiziellen Ermunterungen zur „Mehr-Kinder-Familie” als umsonst erwiesen haben. 1983 war die Geburtenrate in der CSSR die niedrigste seit dem Zweiten Weltkrieg, 1984 soll einen minimalen Zuwachs - im Vergleich zur Talsohle des Vorjahres-gebracht haben. Dafür erreichte die Zahl der Abtreibungen einen noch nie dagewesenen Rekord: Jede dritte Schwangerschaft wurde unterbrochen.

In der DDR hat sich der negative demographische Trend - dank massiver materieller Anreize für junge Ehepaare mit Kindern -stoppen lassen. Laut jüngsten soziologischen Untersuchungen der Ostberliner Akademie der Wissenschaften steht ein „glückliches Familienleben mit Kindern” wieder an der Spitze der Werte-Skala der Frauen bis 30 Jahre. Die Scheidungsraten sind jedoch nach wie vor hoch: Jede dritte Ehe zerbricht.

Das einzige Land im kommunistischen Osteuropa, das niemals echte Sorgen mit seiner Bevölkerungsentwicklung hatte, ist das katholische Polen. Es hatte 1983 sogar den relativ höchsten Bevölkerungszuwachs in ganz Europa. Auch in den Jahren der schlimmsten materiellen Krise 1980/81/82 gab es keine demographische Abwärtsbewegung. Ein Wunder an der Weichsel.

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