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Nächste Krise vor der Tür

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Die totale physische Erschöpfung der in pausenlosem Einsatz befindlichen Soldaten und Freischärler, das Einsickern eines aus Angehörigen der Guerillagruppe „Es-Saika“ („Der Blitzstrahl“) und der syrischen Armee gebildeten Expeditionskorps, die Vermittlungsbemühungen des algerischen Präsidenten Houari Boumedienne und des ägyptischen Staatschefs Mohammed Anwar es-

Sadat, sowie ein Waffenstillstandsabkommen zwischen Ministerpräsident Amin el-Hafis und PLO-Chef Jassir Arafat führten zu einer Beruhigung der explosiven Situation in der libanesischen Hauptstadt Beirut.

Obwohl die kämpfenden Parteien zum drittenmal binnen dreier Tage den Rückzug ihrer Streitkräfte in die Ausgangspositionen vereinbart Hat-' ten, hörte man aus den Außenbezir-

ken noch immer vereinzelten Kampflärm. Im Beiruter Stadtzentrum herrschte zwar gespenstische Stille, unterbrochen nur von den feierlichen Gebetsrufen der Muezzins von den Minaretten der Moscheen. Ausnahmezustand und totale Ausgangssperre waren aufrechterhalten worden. Doch einen massiven Hinweis auf die Unnachgiebigkeit beider Seiten lieferten die getrennt auftreten-

den bewaffneten Patrouillen der Armee und der Guerilleros.

Rätsel gab vor allem das Verhalten der aus Syrien eingesickerten fremden Streitmacht auf. Ihre Größe ließ sich von Beirut aus nicht annähernd einschätzen. Aus Armeekreisen verlautete lediglich, die Truppe habe einen etwa zehn Kilometer breiten Gebietsstreifen in der ostlibahesi-schen Provinz Bl-Beka'a an der

syrischen Grenze besetzt und es sei nicht zur Gefechtsberührung mit der einheimischen Armee gekommen. Diese Zurückhaltung erklärt man sich in diplomatischen Kreisen der libanesischen Hauptstadt mit der Furcht Syriens vor einer israelischen Intervention.

Ministerpräsident el-Hafis bot nach eigenen Angaben schon am Donnerstagabend Staatschef Sulei-man Frandschiej seinen Rücktritt an. Der persönlich eher guerillafreundliche Premier, der aber einem konsequent guerillafeindlichen Kabinett vorsteht, wollte die gewaltsame Unterdrückung der palästinensischen Widerstandsbewegung nicht länger mitverantworten. Nur etwas mehr als zwei Wochen nach der letzten

schwierigen Regierungsneubildung steht das Levanteland damit vor einer neuen Regierungskrise.

Wie sich unterdessen herausstellte, wurde das harte Vorgehen der libanesischen Armee, das einen eindeutigen Bruch des sogenannten Kairoer Abkommens von 1969 über die Exterritorialität der Flüchtlingslager darstellte, nicht durch die Bombenanschläge der letzten Tage und auch nicht durch die Festnahme einiger Terroristen provoziert, sondern durch den konzentrierten Versuch der Freischärler, erneut in dem sogenannten „Fatach-Land“, im Süden des Landes an der Grenze nach Israel, Fuß zu fassen. Die Streitkräfte unter General Iskander Gha-nim scheinen die Stärke der Guerilleros jedoch beträchtlich unterschätzt zu haben. Im Armeehauptquartier ist man entschlossen, den Versuch zur Eindämmung des Guerrillaterrors früher oder später erneut zu unternehmen.

In den Flüchtlingslagern wurden nach ersten Bilanzen verheerende Vernichtungen durch den Beschuß

von Panzern und Artillerie und durch Luftwaffenbombardements angerichtet. Die Zahl der Todesopfer scheint die zweihundert zu übersteigen. Auch die Innenstadtquartiere wurden schwer in Mitleidenschaft gezogen. Die Armee schoß rücksichtslos auf Hochhäuser, in denen sich die Wohnungen von Guerillachefs befanden. Während die Palästinenser jetzt eine Sondersitzung der Araberliga unter Generalsekretär Machmut Riad in Beirut oder Kairo anstreben, wollen Staatspräsident Frandschiej und die libanesische Armee selbst um den Preis weiterer blutiger Verwicklungen offenkundig die Wiederherstellung der vollen innerpolitischen Souveränität. Wie brüchig das geschlossene Abkommen sein dürfte, beweist beispielsweise dessen auf völlige Entwaffnung der Kommandos gerichteter Passus. Schon gestern nachmittag machte die PLO klar, daß sie sich daran ebensowenig zu halten gedenke, wie die Armee an den Befehl zur Rückkehr in ihre Kasernen. Die nächste Krise steht bereits vor der Tür.

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