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Nächstenliebe und Rassenwahn

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Eine der engsten Mitarbeiterinnen der während des Zweiten Weltkrieges von Pater Ludger Born SJ geleiteten „Erzbischöflichen Hilfsstelle für nichtarische Katholiken", Schwester Verena, ist am Allerseelentag in Wien gestorben.

Helene Buben, wie sie mit bürgerlichem Namen hieß, 1900 in Wien geboren, absolvierte Ende der zwanziger Jahre den damals neuen Hochschulkurs für Laienkatechese, ehe sie 1931 in die Schwesternschaft der Caritas Sociales eintrat. Vom Jänner 1942 bis April 1945 arbeitete sie in der erwähnten Hilfsstelle — und es ist diese Tätigkeit, die sie zu einer weitum bekannten, verehrten, le-gendenumwobenen Persönlichkeit machte.

Schwester Verena ist die „Schwester Monika" in Gertrud Steinitz-Metzlers Buch „Heimführen werd ich euch von überall her" — dem Bericht über die Schicksale „nichtarischer Katholiken", deren Not die Hilfsstelle zu lindern suchte.

Wer sich in die Geschichte der Hilfsstelle, zu der Pater Groppe 1978 eine materialreiche Dokumentation vorlegte, vertieft, der wird nicht nur mit der Grausamkeit, sondern auch mit der geradezu unheimlichen Systematik des nationalsozialistischen Rassenwahns konfrontiert. Als Schwester Verena ihren Dienst antrat, gab es in Österreich 7917 „nicht-mosaische Juden", wie das NS-Regime zu sagen beliebte, davon 7780 in Wien. Fast 49 % (3863 Personen) waren Katholiken, 1425 Protestanten, 2423 konfessionslos.

Wer weiß heute, daß christliche „Nichtarier" ab Herbst 1941 nur mehr auf jüdischen Friedhöfen beigesetzt werden durften, so daß eigene Abmachungen zwischen kirchlichen Stellen und dem jüdischen Altestenrat über Einsegnung, Beisetzung und finanziellen Aufwand erforderlich waren?

Wer kennt heute den Unterschied zwischen „privilegierter Mischehe" und „nichprivilegier-ter Mischehe" — ein Unterschied, der gleichbedeutend mit dem Unterschied zwischen Deportation und Verschonung, zwischen Tod und Leben sein konnte? Wer weiß heute, was ein „Geltungsjude" war? (Nach den NS-Rassenvor-schriften ein „Halbjude", der z. B. durch seine Heirat mit einem jüdischen Ehepartner ebenfalls als Jude „galt".

Dies alles, heute wie ein Spuk anmutend, war tägliche Münze für die Arbeit der Erzbischöflichen Hilfsstelle. Schwester Verena war überwiegend in der Außenarbeit tätig. Zur Betreuung der schwer betroffenen „nichtarischen" Katholiken zählten neben der Versorgung mit Medikamenten, Lebensmitteln, Kleidern auch Besuche in dem (bis zum Frühjahr 1945 bestehenden) jüdischen Spital in der Malzgasse.

Die Rettung eines jüdischen Kleinkindes aus Oberschlesien im April 1944 zählt zu jenen, außerhalb der „Legalität" des damaligen Regimes stehenden Aktionen der Hilfsstelle, bei welchen das Organisationstalent, der Erfindungsreichtum und der persönliche Mut Schwester Verenas entscheidend zum Gelingen beitrugen. Das kleine Mädchen wurde als „Findelkind" mit Hilfe einer Fürsorgerin dem Zentralkinderheim der Gemeinde Wien zugespielt und konnte nach Kriegsende wohlbehalten seiner Mutter übergeben werden./

Um Nächstenliebe unter der Herrschaft des Rassenwahns praktizieren zu können, bedurfte es mancher Eigenschaften, die nicht immer in einem Menschen vereint sind: Frömmigkeit und Klugheit, eine gewisse Nüchternheit, ja Herbheit, gepaart mit Fröhlichkeit und Humor. Alle diese Eigenschaften haben sich in der Erinnerung derer, die Schwester Verena kannten, tief eingeprägt.

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