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Nährboden der Gewalt

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Beispiellose Szenen der Gewalt rückten vergangene Woche den 20jährigen Nordirland-Konflikt wieder einmal ins Zentrum der internationalen Berichterstattung. Der Anschlag eines protestantischen Extremisten auf das Begräbnis von drei in Gibraltar erschossenen IRA-Leuten und der brutale Mord an zwei britischen Soldaten durch Angehörige einer katholischen Trauergemeinde können selbst im blutigen Alltag Nordirlands noch schockieren.

Die Schüsse britischer Sondertruppen auf drei unbewaffnete Mitglieder der IRA in Gibraltar am 6. März waren lediglich Abschluß einer sechswöchigen Serie von Krisen im Verhältnis zwischen Großbritannien und der Republik Irland. Die beiden Staaten hatten sich im November 1985 vertraglich verpflichtet, eine gegenseitig abgestimmte Nordirlandpolitik zu betreiben.

Anlaß der bilateralen Spannungen war eine Reihe britischer Entscheidungen, die in Irland den dringenden Verdacht weckten, Londons Kampf gegen die IRA entspreche nicht den Kriterien der verhältnismäßigen Gewaltanwendungen und der Rechtsstaatlichkeit.

Der tiefgreifende Vertrauensschwund zwischen Dublin und London muß als mitverantwortlich für die gegenwärtigen Unruhen in Nordirland bezeichnet werden. Erfahrungsgemäß ist es für die paramilitärischen Verbände während eines politischen Vakuums besonders leicht, Verständnis für ihre Taten zu gewinnen.

Die Gewalttaten der vergangenen Woche ereigneten sich beinahe ausschließlich in Westbelfast, einer katholischen Enklave inmitten der überwiegend protestantischen Osthälfte Nordirlands.

Industrie und Gewerbe gibt es kaum in Westbelfast. Die Mehrheit der Bevölkerung lebt von der sozialen Wohlfahrt. Der Abgeordnete des Bezirks ist Gerry Adams, der Präsident des politischen Flügels der IRA.

Polizei und Armee bewegen sich hier wie in Feindesland. In Krisenzeiten werden Westbelfast und die nördlich daran grenzenden Viertel zu Seismographen der politischen Ausweglosigkeit.

Banden von Jugendlichen greifen nachts Einrichtungen der Polizei an, während die Menschen an den Berührungspunkten mit protestantischen Vierteln in dauernder Angst vor Ubergriffen leben. Je länger die Spannungen andauern, desto häufiger werden Konfrontationen zwischen Protestanten und Katholiken.

Der Grund dafür liegt auf der Hand: Die in Nordirland souveräne britische Regierung.

Es bleiben „die anderen“ das Angriffsziel, und dieses Denken wird gefördert durch die paramilitärischen Verbände, die ihre Existenzberechtigung aus dem Anspruch ableiten, ihre Konfessionsgemeinschaft zu beschützen.

Die Bezeichnung der Konfliktparteien als Protestanten und Katholiken entspringt dabei vor allem der journalistischen Bequemlichkeit. Die beiden Lager unterscheiden sich durch viel mehr als durch ihren Glauben: Ihre Tradition, ihre Werte und ihre Leitbilder entstammen verschiedenen Kulturen.

Hätten die katholischen Iren eine andere Hautfarbe, niemand spräche von einem Religionskrieg. So~aber dient die Konfession als bisweilen irreführendes Etikett.

Zwanzig Jahre Krise und Krieg haben nicht allein fast 3.000 Menschenleben gekostet, sondern die Köpfe und Herzen aller Nordiren verändert. Obwohl kein Zweifel daran besteht, daß die britische Präsenz in Irland die Ursache des gegenwärtigen Konfliktes ist, wäre es in hohem Maße irreführend, von einem britischen Rückzug sofortigen Frieden zu erwarten.

Die britischen Truppen sind im Verlauf der Zeit selbst zu einem Symptom geworden. An der Wurzel aber liegt die gänzliche Entfremdung der Bevölkerungsgruppen innerhalb Irlands, gepaart mit der Ignoranz britischer Politiker und Richter.

Die jüngsten Bilder der Gewalt aus Nordirland haben weltweit einen Brechreiz ausgelöst. Dabei dürfen wir allerdings nicht vergessen, daß Willkür und Gewalt kein Monopol nordirischer Extremisten sind: Der Staat selbst hat hier immer wieder versäumt, ethische Maßstäbe zu setzen und sich mehr als einmal auf die Ebene des Terrors herabbegeben.

Britische Politiker unterliegen immer wieder dem fatalen Irrtum, die IRA lasse sich mit militärischen Mitteln besiegen, und bereiten dadurch stets von neuem den Nährboden der Gewalt.

Solange sich die Ereignisse auf den Straßen von Nordirland überstürzen, ist eine politische Lösung nicht in Sicht. Das Fundament der bisherigen anglo-iri-schen Zusammenarbeit ist in jüngster Zeit überaus brüchig geworden. Verhandlungen der nordirischen Protestanten mit der Dubliner Regierung sind undenkbar, solange die IRA auf ihrer gegenwärtigen Position der Stärke beharrt.

Eine Lehre läßt sich aus den Ereignissen der letzten drei Jahre ziehen: Jede von außen oktroyierte Lösung muß scheitern, wenn sie die gemäßigten Vertreter einer Konfessionsgemeinschaft gegen sich hat. Die Iren selbst müssen ihr Schicksal in die Hände nehmen und sich auf ein neues Selbstverwaltungsmodell einigen, das in möglichst lockerem Verhältnis zu London und Dublin steht.

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