6854250-1977_08_08.jpg
Digital In Arbeit

Naturgeschichte von Sinn und Freiheit

19451960198020002020

Die Naturgeschichte der realen Welt, in der auch wir Menschen eingebunden sind, läßt sich an Hand der wissen schaftlich begründbaren Gesetzmäßigkeit der Evolution als eine Naturgeschichte von Sinn und Freiheit verstehen. Aus dieser Naturgeschichte entfalten sich Grundzüge einer modernen Naturphilosophie, in deren Sinndeutung auch die Rätsel des Humanen mit einbezogen werden.

19451960198020002020

Die Naturgeschichte der realen Welt, in der auch wir Menschen eingebunden sind, läßt sich an Hand der wissen schaftlich begründbaren Gesetzmäßigkeit der Evolution als eine Naturgeschichte von Sinn und Freiheit verstehen. Aus dieser Naturgeschichte entfalten sich Grundzüge einer modernen Naturphilosophie, in deren Sinndeutung auch die Rätsel des Humanen mit einbezogen werden.

Werbung
Werbung
Werbung

Die Naturgeschichte unserer Freiheit hängt damit zusammen, daß die Strategic der Genesis dem Lebendi- gen den mikrophysikalischen Zufall erhält. Dieser gleicht sich zwar bereits in Materiemengen, die uns winzig er- scheinen, in einem Maße aus, daß fur sie die deterministischen Gesetze der klassischen Physik gelten, im Verhal- ten der Quanten und Atome bleibt Indetermination aber immer vorhanden.

Der eine Weg, den das Leben gefun- den hat, sich die Freiheit des moleku- laren Zufalls zu erhalten, beruht auf der Codierung der Erbinformation in einem molekularen Faden. Durch ihn wird jene Freiheit der Zufallsände- rung konservjert, die wir Mutation nennen; obwohl das Einzelmolekül mit seinem System fur so große Materiemengen codiert, nämlich die Organe eines Organismus, daß diese wie- der den Notwendigkeiten der klassischen Naturgesetze folgen. Damit ha- ben Biophysik und Molekulargenetik bewiesen, daß diese Freiheit des Ex- perimentes aller Entwicklung, von den Strukturen bis zu den Schaltun- gen, erhalten bleibt.

Die Billardkugel als Beweisfuhrung

Ein zweiter Weg, wahrscheinlich ein ganzes System von Wegen, erhält den mikrophysikalischen Zufall durch die Etablierung langer Kausalketten. Dies hat man sich noch zuwenig klarge- macht. Ich verdanke die Einsicht in die physikalische Notwendigkeit dieses Zusammenhanges dem Wiener Physi- ker Roman Sexi, der den Nachweis fiihrt, daß auf Grund der Heisenberg- schen Unschärferelation auch in einem ideal gedachten Billard, in einer Kette sich stoßender Kugeln die sie- bente die achte nicht mehr mit Sicher- heit treffen kann. Die Unschärfe der Lage der sich stoßenden Oberflä- chenmoleküle erreicht nach achtfa- cher Potenzierung die Größe der Billardkugel. Damit enthüllt sich eine ganze Welt evolutiven Zufalls.

Am augenfalligsten sind diese Frei- heiten, wenn wir die Länge von Kausalketten, das ist zumeist außerhalb der Orgahismen, meinen iiberblicken zu könnep. In diesem Sinne errechnet sich der Zufall aus Jacques Monods be- rühmtem Beispiel, wie es Manfred Eigen zitiert: „Ein Arzt wird zu einem neu erkrankten Patienten gerufen (1. Folge). Ein Dachdecker läßt bei der Arbeit seinen Hammer fallen (2. Folge). Der Hammer trifft den Kopf des Arztes (Verknüpfung beider Folgen auf Grund zufalliger Koinzidenz). Selbst wenn die Generationenketten beider Manner aus durchdeterminier- ten Puppen bestünden und schon im Mittelalter demselben Ahnen ent- sprängen, die Kausalketten ihrer Le- bensumstände wären zu lang, um ih- ren Koinzidenzpunkt vorhersehen zu können.

Nicht minder aber muß die Erhal- tung des molekularen Zufalls eine Folge der Komplexität sein; denn Komplexität ist ja wieder nur eine Be- zeichnung fur sehr umfangliche not- wendige Zusammenhänge mit der gleichzeitigen Entschuldigung unseres Mangels an detaillierter Kenntnis.

Wer will das Denken voraussehen?

Wenn man sich erinnert, daß unser Gehirn mindestens zwölf Billionen Einzelzellen enthält, daß darin schon jede Purkinjesche Zelle von etwa 200.000 Fasern durchwachsen ist und daß bereits beim einfachsten Denk- vorgang große Teile des Gehirns in vielen Wellen durchströmt werden, wer wollte da noch mit der hundert- sten Kugel die hunderterste treffen; wer will voraussehen können, was ihm im nächsten Augenblick alles durch den Kopf gehen wird. Auch in der Komplexität sichert sich die Evolution ihre Freiheit; und sie durchzieht alles Lebendige bis zu unserem Denken und Wollen und damit auch noch alle Bereiche unserer Kultur.

Niemals aber könnte die Freiheit des Zufalls der Notwendigkeit hoher Tref- ferchance entsprechen, wenn ihr Repertoire nicht mit jeder neuęn Freiheit auch in jeweils neuer Weise drastisch verengt würde; wenn nicht jener ge- treue Antagonist, den wir in den ein- zelnen Ebenen Molekular-, Struktur- und Schaltordnung, Denk-, Sozial- und Individualgesetze nennen, die Grenzen, in welchen der Zufall suchen darf, mit unumgänglicher Strenge verengte; mit Determinanten, die wir selbst wieder schichtenweise Erhaltungsbedingungen, Selektion, Einsicht und Moral nennen. Selbst die höchste Freiheit entfaltet ihre schöpferische Chance nicht im Ausufem von Kopflosigkeit und Anarchie, sondern in den strengsten Eigengesetzen der Persönlichkeit. Zufall ohne Grenze ist Chaos, seine oberste Begrenzung unser höchstes Gut

Naturgeschichte unseres Sinns

Was nun zum Schlüsse die Naturgeschichte unseres Sinns betrifft, so hängt diese mit der Evolution der Systembedingungen zusammen; Sinn also in dem Sinne, einen Zweck, ein Ziel zu besitzen, einschließlich der Erwartung, dieses auch erreichen zu können; und das sind im Sinne Mo- nods Teleonomie „alle Strukturen, alle Leistungen, alle Tätigkeiten, die zum Erfolg des eigentlichen Projektes beitragen”. Es geht also um eine Naturgeschichte der Finalität Daß die menschliche Vorstellung vom Sinn naturgeschichtlich so notwendig und so alt wie der Mensch sein muß, das haben wir auch schon festgestellt

In diesem gewiß begründeten Wortsinn finden wir Sinn oder Zweck tatsächlich nur im Naturbereich des Organischen; dies aber von den höchsten Produkten des Menschen abwärts bis zu den niedersten Strukturen der Urlebewesen. Zu behaupten, daß das Unbelebte einen Sinn hätte, hat so wenig Sinn wie die Behauptung, daß es denken könnte. Das Unbelebte erhält seinen Sinn erst, indem es dem Leben dient So sind alle Strukturen eines Organismus sinnvoll, hinunter bis zu den Molekülen, ja bis zu jenem Wasserstoffatom des Gen-Originals. Ebenso gewinnen Wasser, Stein oder Höhle ihren Sinn erst mit unserer Ab sicht, sie zu verwenden. So zieht Materie durch die Organismen hindurch oder an ihnen vorbei, gewinnt dienend Sinn und, abgeschieden oder verlassen, verliert ihn wieder.

Steuern zahlen als Lebenszweck…

Verfolgt man den Sinn der Zusammenhänge nun aufwärts, so dienen alle Einrichtungen eines Organismus der Erhaltung des Individuums oder, mit anderen Individuen, der Erhaltung einer Art Noch weiter aufwärts kann eine Art den Zwecken eines übergeordneten Systems dienen, wenn sie in diesem mit anderen zu einer Schicksalsgemeinschaft verflochten ist. Das zeigen die Symbiosen. Alle lebensbezogenen Schicksalsgemeinschaften von Subsystemen, die gemeinsam den Erhaltungs- oder Uberlebenschancen ihres Supersystems dienen, verdienen die Bezeichnung des Zweckmäßigen. Schon die Einseitigkeit des Nutzens strapaziert den Begriff. Daß es etwa der Zweck des Hasen wäre, den Fuchs, der Zweck der Vegetation, die Biosphäre zu ernähren, oder unser Lebenszweck, Steuern zu zahlen, das wird man nicht sofort anerkennen; obwohl die Erhaltungschancen des Fuchses, der Biosphäre und des Staates tatsächlich vom Hasen, von der Vegetation und von unseren Steuern ab- hängen. Wenn wir aber in den Systemen noch einen Schritt aufwärts tun und fragen, worin wohl der Zweck der Biosphäre oder des Lebendigen bestände, dann finden wir entweder keinen oder treten, in begreiflicher Ratlosigkeit, hinüber in die fiktiven Welten der Metaphysik.

Naturwissenschaftlich finden wir zuoberst nur das Supersystem „Leben” oder „Biosphäre”, das eine Anzahl von Formbedingungen setzt, welchen seine Subsysteme zu entsprechen haben, wenn es um ihre gemeinsamen Erhaltungsbedingungen geht. Dies mag zunächst ernüchternd scheinen; doch löst es das Paradoxon, daß wir an der Spitze einer gewaltigen hierarchischen Pyramide von Lebenszwecken keinen Zweck mehr fänden; und es zeigt sich, daß es sich um eine völlig lückenlose Hierarchie von Formursachen handelt; von der Form-Ursache des gesamten Ökosystems bis zu jenen der letzten molekularen Erhaltungsbedingungen des Lebendigen.

Wir müssen aber noch einen Schritt weitergehen, denn wenn wir es unternehmen, den Sinn allein aus dem Kausalitätsgefüge bis in die Höhe unseres eigenen Gefühls zu verfolgen, so fehlt noch das Zukunfts- oder Richtungweisende, das er hier einschließt. Zwar enthält, um bei Carl Friedrich von Weizsäckers Beispiel zu bleiben, die Formbedingung, die der Form des Holzes überlagert wird, bereits den Sinn des Tisches. Aber die richtungslose Wandelbarkeit dieser Formursache, die ihn zur Tafel wie auch zur Werkbank, zum Hackstock, ja zu Brennholz machen kann, unterscheidet sie noch sehr von dem Sinn, den wir etwa in uns selber zu finden meinen; so wie das kopflose Rennen des Huhns, der unvorhersehbare Wechsel unserer Meinungen und Moden wohl seinen Zweck, aber noch nicht die Würde eines Sinnes haben mag.

Im Menschen haben sich über all jenen, bis zum Primaten erworbenen Richtungssinn, noch die Richtungskomponenten des Homo sapiens, der Sozialstrukturen und ihrer Kulturen gelegt. Es ist schon nach diesen Formgesetzen objektiv vorauszusehen, daß die Evolution auch unseren Zukunftschancen davon keine Abweichung gestatten wird. An diesem Punkte kann man erkennen, daß eben diese vier objektiven Komponenten des Richtungssinns völlig jenen entsprechen, die uns subjektiv längst als das Ziel unserer Entwicklung als Menschheit, Vernunft, Humanität und als die Aufgaben der Kultur vorschweben.

Die Frage nach dem letzten Sinn…

Derselbe Systemcharakter und sein Werden ist es ja auch, der nicht nur den Menschen, sondern aller belebter Natur den Charakter der Selbstbestimmung, einer vernetzten Sinngebung verleiht, der zu jener poststabilisierten Harmonie führt, von deren überge ordnetem „Sinn” wir Menschen wieder nur einer sind. Denn kein letzter Sinn erscheint vorgesehen. Sinn entsteht nur mit seinen Systemen.

Aber selbst im neugeschaffenen Sinn ist die Wechselwirkung mit seinem Antagonisten, der Freiheit unerläßlich. Denn ein dekretierter Sinn, sei er auch in Prästabilisation, Prädestination oder Ideologie verpackt, ist noch nicht Sinn in unserem Sinne. Es wären nicht unsere eigenen Zwecke, die wir verfolgten, es wären die Zwecke dessen, der sie verfugte. Dem trägt auch die Theologie Rechnung. Dies umschifft auch der philosophische Idealismus; und die militante Ideologie versucht, die Sache zu verbergen. Sinn hat ohne Freiheit keinen Sinn; so wie Freiheit ohne Sinn keine Freiheit ist. Die Konsequenzen der Strategie der Genesis haben ihren Kreis geschlossen. Wo also befinden wir uns? Wir können nun auch die Frage, was denn von dieser Genesis schlechthin zu halten wäre, endgültig beantworten.

Die Genesis der Systeme schafft uns alles, sogar das Höchste, das wir selbst zu besitzen meinen: Sie schuf unseren Sinn und sie erhielt unsere Freiheit. Da sie aber alle ihre Schöpfungen aus deren eigenen Antagonismen entstehen läßt, können auch wir Menschen unseren Sinn und unsere Freiheit nur aus unseren eigenen Systemen entwickeln. Wir gaben sie uns und wir müssen sie uns auch in aller Zukunft selber geben. Aussicht auf Erfolg wird aber unsere Fortbildung nur noch innerhalb der festgelegten Determinanten des reinen Menschentums haben; in den schöpferischen Freiheiten der gezielten Fortbildung eines Milieus, eines Geistes, einer Gesellschaft und einer Kultur des Humanen.

Während die wirren, dunklen Ahnungen einander noch immer bekriegen, lehrt die Tiefe unserer Geschichte den uns gangbaren Weg durch diese Natur. Es muß es wert sein, sie noch tiefer zu erkennen.

(Aus: Rupert Riedl, „Die Strategie der Genesis, Naturgeschichte der realen Welt”. Piper-Verlag, München-Zürich 1976.)

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung