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Naturschutzgärtner

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Der Wahltag rückt immer näher. Die Themen scheinen weitgehend abgeklärt. Die Fabeln vom schöneren, besseren Leben, destillierbar aus roten oder schwarzen Programmen, haben alles erfaßt. Fast hat es den Anschein, als wäre die Eskalation der Geschenke für die jungen Ehepaare, die Omas und Opas, die berufstätigen Mütter und die strapazierten Bergbauem abgesprochen. Niemand hingegen redet — einträchtig — etwa von jenen Fragen, die die Existenz dieses kleinen Landes berühren, die an den Kem seiner Sicherheit, an die Wurzeln seiner exponierten Stellung in einer offensichtlich in Bewegung geratenen europäischen Szene rühren.

Denn gerade in diesen letzten Wochen, in denen Plakate und Prospekte das Idyll von der guten Luft und den vollen Tellern in Österreich in der nächsten Legislaturperiode vorzauberten, ist plötzlich das gesamte Gefüge in Mitteleuropa ins Rutschen geraten. Da gelang eine Regelung hinsichtlich der geteilten Stadt Berlin; da besuchte Westdeutschlands Bundeskanzler den sowjetischen Parteichef in Jalta — just dort, wo böse Erinnerungen ihren Spuk treiben; und da reiste der sowjetische Parteichef an den Unterlauf der Donau, um mit seinem Wort die Instabilität am Balkan zu lösen, der zunehmend in den letzten Monaten in den Mittelpunkt der Krisenspekulation geraten war.

Da ist offenbar in zwei Nachbarländern Österreichs eine wesentliche und über die Besuchsdiplomatie hinausreichende Klimabereinigung erfolgt. Bonns Vertrag mit Moskau hat nach der Berlin-Regelung alle Chance, nun doch ratifiziert zu werden. Nun aber kommt die Einlösung des sowjetischen Schecks: offenbar massive Kredithilfe der Bundesrepublik für die hilflose sowjetische Wirtschaft, deutsche Mitarbeit an der Sicherheitskonferenz, damit Verpflichtung zur Verminderung der eigenen Truppenstärken, vor allem aber die Verdünnung der alliierten Präsenz westlich der Oder; deutsche Zustimmung zu gesicherten Grenzen in Europa, damit zum Status quo. Dieser Status quo sieht vor, daß die Rote Armee in Ost-Berlin ebenso steht wie im Böhmerwald und in Ödenburg.

Faktum bleibt, daß Österreichs großer westlicher Nachbar seinen Frieden mit dem Osten nachvollzogen hat. Und daß solcher Nachvollzug seinen Preis kostet, darf in dieser Zeit wohl nicht verwundern. Der Preis ist aber doch ganz offensichtlich das militärische Disengagement der Deutschen vor oder nach einer Sicherheitskonferenz. Dazu kommt, daß die NATO mit ihrem Plan der ausbalancierten Truppenreduktion (MBFR) einer aktuellen US-Politik nachkommen kann. Denn in Washington sind es ja nicht nur grantige isolationistische Senatoren, die den Truppenabzug aus Europa wünschen — die Streiterei um die Kosten der Gis in Europa hat ja sehr weitgehend die Dollarkrise beeinflußt. Es sollte nicht wundern, wenn man sich zwischen Europäern und Nordamerikanern eines Tages über die Stationierungskosten nicht einigen könnte — und die Russen zusehen dürften, wie die Amerikaner ihre Siebensachen packen.

Da gewinnt die jüngste südosteuropäische Szene Gewicht. Dort sicherte Breschnjew Tito tatsächlich zu, bei Wohlverhalten seine Doktrin, die es gar nicht geben soll, nicht anzuwenden; die jugoslawischen Kommu nisten hätten sich nur im Rahmen des „sozialistischen Internationalismus“ zu bewegen. Über Auslegungen dieses Terminus wird man später reden — und ob etwa die Nachfolger Titos gute Marxisten-Leninisten sind, wird dann im Kreml entschieden … Etwa genauso, wie die Entscheidung über Dubček nicht in Prag fiel. Tatsächlich: dieses Treffen von Belgrad ist für die Jugoslawen und auch für die Rumänen möglicherweise ein Ciema na Tisou gewesen: In jenem slowakischen Dorf sicherte im Sommer 1968 bekanntlich Breschnjew auch den Tschechen Nichteinmischung zu, wenn sich Dubček als baver Kommunist wohl- verhalte…

Nun, offenbar sind die Motive allerdings ein wenig unterschiedlich. Heute entscheidet sich das Wohlverhalten für die Sowjets ja vor allem danach, ob die Genossen im Westen auch nicht zum roten Osten nach Peking blicken. Aber die Chinesen werden schon wissen, warum sie in Wien ihre größte Europabotschaft etablieren.

All das ist von existenzieller Bedeutung für Österreichs südöstlichen Nachbarn. Und für Österreich? Nun, wir konstantieren es: kein einziger Politiker hat im Rahmen dieses Wahlkampfes etwa zu allen diesen Ereignissen eine Aussage getan.

Während also Österreichs Bundesheer derzeit nach übereinstimmender Ansicht der Fachleute nicht einsatzfähig ist und auch bis Anfang 1972 nicht einsatzbereit sein wird, (weil erst dann das „Loch“ der Dienstzeitverkürzung aufgefüllt sein wird), bereitet sich die sicherheitspolitische Verschiebung in Europa vor.

Bei allen Annahmen militärischer Konfrontation für Österreichs Wehrmacht war die strategische Grundvoraussetzung stets die, im Falle von Maßnahmen aus dem Osten diese so lange verzögern zu können, bis politische und militärische Hilfe aus dem Westen gekommen sei. Dieser Westen aber ist offenbar an derartigem Sukkurs für den kleinen Neutralen nicht mehr Interessiert, weil er selbst vor jeder Konfrontation zurückschreckt.

Das hat der Realist und gelehrte Außenpolitiker Kreisky auch erkannt. Zieht er Schlußfolgerungen?

Die sogenannten Realisten werden all das als Utopie abtun. Wer soll uns schon was tun wollen? Wo jeder von einer Sicherheitskonferenz spricht?

Aber während die Politiker weiter fabulieren und Wahlkampfschalmeien erklingen lassen, redet niemand von den eigentlichen Auswirkungen der letzten Tage und Wochen auf Sicherheit und Situation dieses neutralen Kleinstaates. Tatsächlich: offenbar glauben auch die Politiker bereits selbst, was man jahrelang dem kleinen Mann eingehämmert hat: daß wir nämlich ein internationaler Naturschutzgarten sind, den die anderen nicht betreten wollen und werden.

Eine Demokratie braucht nicht nur Ehrlichkeit, wenn es um Budget- deflzite und Rentenwünsche geht — also um das Materielle, das hierorts das einzige Goldene Kalb der Politik ist; die Demokratie braucht auch Demokraten, die ans Morgen denken. So was ist aber nicht gefragt. Warum denn die Österreicher aus ihrer selbstgebastelten Ruhe schrecken?

Die Haltung grenzt ans Fatale. Nur macht man mit Fatalismus eine verflucht schlechte Politik. Gerade in den nächsten vier Jahren.

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