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Nesthäkchens letzter Weg

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Else Ury, die große Unbekannte. Es gibt Erfolgsbücher, deren Titel solche Popularität erlangen, daß darüber der Name des Autors ins Hintertreffen gerät, kaum je Eigenwert erhält: „Nesthäkchen“ ist so ein Fall. Den Begriff hat’s auch schon vor Else Ury gegeben, aber erst sie — durch die millionenfache Verbreitung ihrer Bücher — hat ihn zum Gebrauchswort gemacht. Und das auf Kosten ihres eigenen Namens. Wer in der Buchhandlung nach dem neuesten Nesthäkchen-Band fragte, konnte sich jedes weitere Wort ersparen. Vielleicht könnte man es dabei auch bewenden las-

sen, hätte die Lebensgeschichte dieser Else Ury in ihrer letzten Phase nicht eine derart groteske Wendung zum Tragischen genommen.

Um dieses düstere Kapitel deutscher Kulturgeschichte aufzuhellen, das ausgerechnet eine der Exponentinnen der heiterunbeschwerten Kinderbuchliteratur zur Hauptperson hat, muß ich eine Auslandsreise antreten: Von den in Frage kommenden Auskunftspersonen lebt keine einzige mehr in Nesthäkchens Ursprungsheimat Deutschland. Nach einigem Hin und Her mache ich schließlich in London Else Urys Universalerben ausfindig: Emest I£. Heyman. Ihm, dem Lieblingsneffen, hat sie alles vermacht, er betreut ihr Werk, und unter seinem ursprünglichen Vornamen Klaus kommt er sogar selber in den Nesthäkchen-Büchern vor: als Nesthäkchens großer Bruder.

Ich treffe Emest Keith Heyman alias Klaus Heymann, der seinen Namen im englischen Exil (auch für den Fall, daß er während des Zweiten Weltkriegs in deutsche Gefangenschaft geraten wäre) beizeiten anglifiziert hat, zu einem günstigen Zeitpunkt an: Er trägt sich mit dem Gedanken, seine Lebenserinnerungen aufzuzeichnen, hat also auch die Biographie seiner Tante in groben Umrissen im Kopf. Manches wird er freilich noch recherchieren müssen, und davor ist ihm bange.

Else Ury kommt am 1. November 1877 in Berlin zur Welt. Die Eltern sind typische Vertreter des jüdischen Großbürgertums. Der Vater führt eine Tabakfabrik, auch als virtuoser Toast- und Versammlungsredner hat er einen Namen. Die Mutter, dem Musischen zugetan, kann’s in der klassischen deutschen Literatur mit manchem Germanistikprofessor auf nehmen. Das väterliche Geschäft verzeichnet Rückgänge: Schnupftabak und Kautabak kommen aus der Mode, da sind Nebeneinkünfte willkommen: Tochter Else beginnt zu schreiben. Humoresken für die berühmte „Vossische Zeitung“. Gelegen heitsgedichte hat sie schon als junges Mädchen verfertigt — damals, als sie noch Schülerin der Königlichen Luisenschule war.

Natürlich geht man als weibliche Angehörige des gehobenen Mittelstands zu jener Zeit nicht ins Berufsleben, sondern widmet sich dem Haushalt und — wartet auf den Mann fürs Leben. Else Ury folgt also eher ihren persönlichen Neigungen als wirtschaftlichem Kalkül, als sie mit neunundzwanzig ihr erstes Buch herausbringt: „Studierte Mädel“. Titel wie „Was das Sonntagskind erlauscht“, „Goldblondchen“, „Baumeisters Rangen“ und „Lotte Naseweis“ folgen; es sind durchwegs — wie sie es selber nennt — „Schulmädelgeschichten“. Der ganz große Erfolg setzt nach Ende des Ersten Weltkriegs ein: mit der Nesthäkchen-Serie. 1925 ist dieses Kapitel abgeschlossen: Zehn Bände sind’s geworden. Und alle zehn mit „Nesthäkchen“ Annemarie, der Tochter des Ber-

liner Klinikarztes Dr. Braun, als Hauptperson. Von der Wiege bis (fast) zur Bahre. Fünf Generationen umspannend: von Nesthäkchens Eltern bis zu Nesthäkchen selber in der Rolle der Urgroßmutter.

Die Vorbilder für ihre Figuren findet Else Ury, die selber unverheiratet bleibt, im engeren Familien- und Bekanntenkreis. Sie wird zur Familienchronistin, die sich auf pointierte Dialogführung versteht und es damit zu Bestsellererfolgen bringt. Und die die Erträgnisse aus ihrem Beruf mit denen, die ihr den Stoff dafür liefern, redlich teilt. „Tante Else“ — so zollt Lieblingsneffe Klaus ihrer Großzügigkeit noch heute Anerkennung — „war das Portemonnaie der Familie.“

Er weiß, wovon er spricht: Als Klaus Heymann 1936 mit achtzehn sein Abitur macht, als Jude an keiner deutschen Hochschule mehr inskribieren kann und fürs Architekturstudium nach England emigriert, finanziert ihm Else Ury seine Ausbildung. Erst kurz vor Kriegsausbruch werden die Zahlungen von Staats wegen eingestellt.

Auch sonst hat sich nun einiges verändert, treibt’s unaufhaltsam der Katastrophe zu. Else

Ury wird von der Reichsschrifttumskammer ausgeschlossen, und das bedeutet: mit Schreibverbot belegt. Als typische „Assimilierte“ ist ihre jüdische Herkunft der großen Öffentlichkeit nicht bekannt, wohl aber natürlich der Behörde. Man ist von den Eltern zwar noch im orthodoxen Glauben erzogen worden, hat sich davon aber seit dem Tod des Vaters (im Jahr 1921) weitgehend entfernt. Nur an den hohen jüdischen Festtagen geht man noch in die Synagoge, die häusliche Sabbat- Feier ist gestrichen, die Leuchter sind außer Dienst gestellt. Man fühlt sich deutschnationalem Gedankengut verpflichtet und muß sich dafür prompt von glaubensstrengen Juden Vorhaltungen machen lassen.

Ja, Else Urys naive Loyalität geht sogar soweit, daß sie den Machtantritt der Nationalsozialisten als deutschen „Vorfrühling“ preist: Ihre 1933 erschienene Erzählung „Jugend voraus“ mündet in ein ausdrückliches Bekenntnis zu Adolf Hitler. Es ist anzunehmen, daß der Verlag es seiner Autorin aus Opportunitätsgründen abgerungen hat. Nur die stramm systemkonforme Illustration mit der Hakenkreuzfahne gerät gegen ihren Willen ins Buch.

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