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Netter Nachbar wurde zur Bestie

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Soundsovielhundert Tempel unter Aufsicht der Feuerwehr niedergebrannt, soundsovieltau-send Geschäfte geplündert und zerstört, fast hundert Menschen in Deutschland und Österreich sofort erschlagen, 20.000 oft auf Nimmerwiedersehen in die Lager abtransportiert und das Leid, das dies bedeutete - das ist die eine Seite dessen, was in der „Reichskristallnacht“ geschah. Wir kennen sie aus der Perspektive der Opfer. Die Täter geben wohlweislich keine Erinnerungen preis. Sie haben sich aus der Weltgeschichte durch die Hintertür verdrückt.

Aber das Verhalten des einzelnen ist ein untrennbarer Teil der Geschichte. Und gerade ein Land, das sich ungerecht behandelt fühlt, „vom Ausland“ ebenso wie von seinen eigenen oft genug als „Nestbeschmutzer“ beschimpften Kritikern, muß sich, wenn von einem Geschehnis wie der „Reichskristallnacht“ die Rede ist, auch, nein, gerade dieser Seite der Sache erinnern.

Die Täter schrieben zwar keine Memoiren, jedenfalls nicht über diese Art von Heldentaten, aber ein Teil von ihnen wurde nach dem Krieg zur Verantwortung gezogen. Ich will versuchen, die „Reichskristallnacht“ in Österreich aus der Perspektive jener Prozesse darzustellen, in denen ausdrücklich von den November-Pogromen die Rede war, und soweit die österreichischen Zeitungen darüber berichtet haben. Es waren immerhin einige Dutzend.

In Innsbruck wurden zum Beispiel die Kaufleute Dr. Wilhelm Bauer und Ingenieur Richard Graubart erschlagen. Beteiligt daran waren — als Mitglieder einer Horde von Nazis — ein damals 25 Jahre alter Gastwirtssohn und ein 17jähriger. Der Gastwirtssohn will als Hauptsturmführer der SS seine Leute nur aufgefordert haben, die Juden ordentlich zu verprügeln und die Wohnungseinrichtung zu zerschlagen, von einem ausgeführten Mord sei keine Rede gewesen. Der Mitangeklagte bekräftigt, er selbst habe Dr. Bauer nur einen Schlag mit der Pistole auf den Kopf versetzt, sich aber dann an den Ausschreitungen nicht weiter beteiligt. Es seien bei der Aktion leider als Rowdys bekannte SA-Leute dabei gewesen, die seien an den Morden schuld.

Man darf nicht glauben, daß unter den als Rowdys bekannten Innsbrucker SA-Leuten, die an den Ausschreitungen teilnahmen, nur Desperados und Primitivlinge waren. Auch ein Arzt war dabei.

Und der SD, der Sicherheitsdienst der SS, vermerkte in einem zusammenfassenden Bericht zynisch: „Falls Juden bei dieser Aktion keinen Schaden erlitten haben, dürfte dies darauf zurückzuführen sein, daß sie übersehen wurden.“

Die beiden oben erwähnten Angeklagten bekamen im Oktober 1946 als Mitschuldige 13 beziehungsweise zwölf Jahre, der Arzt einen Monat später fünf Jahre, wieviel sie davon tatsächlich abgesessen haben, das gehört in ein ganz anderes, besonders gründlich verdrängtes Kapitel österreichischer Zeitgeschichte.

In so manchem Prozeß war die Rolle, die der Angeklagte im November 1938 gespielt hatte, nur ein Splitterchen im Mosaik. Ein Grazer SS-Mann, der beim Brand des Tempels in Uniform Wache gehalten hatte, pflegte in seinem Wohnhaus die Stiefel aus- und Filzpatschen anzuziehen, aber nicht aus Bequemlichkeit, sondern um unbemerkt an den Türen zu horchen und Leute, die daheim nazifeindliche Äußerungen von sich gaben oder ausländische Sender abhörten, anzuzeigen. Er brachte vier Personen ins KZ, zwei von ihnen kamen dort um.

Der Fall ist beispielhaft für den Nazi-Alltag. Bei besonderen Gelegenheiten feierte die menschliche Niedertracht dann wahre Orgien. Die „Reichskristallnacht“ gab ihr Gelegenheit, sich auszutoben und sich zugleich auch kräftig zu bereichern.

In der Wiener Albertgasse wird ein NSDAP-Blockleiter mit schlecht gehendem Lebensmittelgeschäft den jüdischen Konkurrenten los: Er nimmt ihm am 10. November einfach die Ladenschlüssel ab und versiegelt das Geschäft. Eine Konkurrentin, die keine Jüdin ist, zeigt er wegen Begünstigung jüdischer Kunden an (dieses Delikt gab es damals).

In Meidling zündet ein Schneidermeister, ebenfalls Nazi-Ortsgruppenleiter, den Tempel an und brüstet sich, „ganze Arbeit geleistet zu haben“. Das jüdische Ehe-

,,Das Verhalten des einzelnen ist ein untrennbarer Teil der Geschichte“ paar Taussig, auf das er es abgesehen hat, muß in den Keller „umziehen“.

In Stadlau treffen sich die Pogromhelden im Wirtshaus ihres Obertruppführers, er traktiert jeden einzelnen „verhafteten“ Juden mit Fußtritten und treibt sie an einem der nächsten Tage in Unterwäsche in den vorbeifließenden Bach.

In Hietzing dringt der Vorstand einer Bankfiliale mit zwei Männern in die Wohnungen von Juden ein, sperrt die Familien Stern und Böhmer in ihre Vorzimmer, durchsucht alles und läßt Schmuck und Bargeld mitgehen. Wo er nichts findet, schlägt er aus Wut zu.

In Favoriten reißt ein Schustermeister Frau Marian-Neumann die Brillanten aus den Ohren und einen Ring vom Finger. Zum jüdischen Lederhändler Fischmann ist er „gnädig“, er wirft ihn aus Geschäft und Wohnung in der Quellenstraße, läßt ihm aber einen winzigen Raum für sich und die Familie. Die Befreiung im April 1945 wußte er ebenfalls zu nutzen - als Plünderer.

Auch die Wiener Hausbesitzerin, welche die jüdische Klavier-pädagogin Käthe Österreicher-Osten im November 1938 schwer mißhandelte, in einem dünnen Kleid im Hausflur halb erfrieren und wenig später so verprügeln ließ, daß sie auf der Polizei verbunden werden mußte, um deren Wohnung an sich zu bringen, hat ihr Opfer vor dem Nazi-Einmarsch höflich gegrüßt - und 1945 versucht, Wohnungen geflüchteter Nazis zu annektieren.

In der Sechsschimmelgasse dirigiert eine Judenhasserin mit einer Liste in der Hand die Gestapo zu den Wohnungen von Juden. Die Bewohner werden herausgetrieben und abgeführt.

Ein alter österreichischer Wachebeamter in Pension benützt die Pogromtage, um zuzuschlagen: Er hat sich schon vor Monaten in eine Gruppe von konservativen NS-Gegnern („Ostfrei“) eingeschlichen und läßt am 11. November alle zehn verhaften. Wilhelm Hebra, ein Enkel des berühmten österreichischen Klinikers, wird hingerichtet.

Ein Bahnpolizist annektiert die Wohnung eines jüdischen Kaufmannes und befiehlt diesem, sich zur Verschickung nach Polen zum Franz-Josephs-Bahnhof zu begeben. Die Nazi-Ortsgruppe klärt den Kaufmann auf, davon sei keine Rede. Ein Buchbindergehilfe raubt mit seinem Blockleiter Wohnung um Wohnung aus, in eine zieht er selber ein und „bezahlt“ dem Familienoberhaupt für eine Speisezimmereinrich-tung, ein Messingbett und einen Ofen — vierzig Schilling. Ein Fleischselcher treibt Juden mit der Peitsche aus ihren Wohnungen zu ekelhaften Reinigungsarbeiten, zwingt sie zum „Froschhüpfen“ und zerschlägt einem jüdischen Kriegsinvaliden die Prothese. Ein Bäckergehilfe sagt, da ihm der Befehl, die Hausdurchsuchungen und Beschlagnahmen seien nun einzustellen, zu früh

,,Nur ein Bruchteil dieser Geschehnisse wurde später bekannt“ kommt: „Ach was, wir machen weiter.“ Schon am Tag, nachdem er die gesamte Habe eines Juden mit dem Lastwagen abtransportiert hat, geht er in dessen Anzug spazieren. Ein Polizeikommissär, der eine Jüdin binnen drei Tagen zum Ausziehen gezwungen, für die gesamte Einrichtung 40 Mark und für ein funkelnagelneues Bad keinen Pfennig bezahlt hat, will dem Gericht weismachen, er sei zur Annahme der Wohnung gezwungen worden.

Es ist wahr, daß die „Reichskristallnacht“ eine „von oben“ befohlene Aktion war. Ebenso wahr ist, daß sie dem Unmenschen Gelegenheit gab, sich auszuleben, und daß an den Pogromen, Raubzügen und Exzessen dieser Novembertage viele „Menschen wie du und ich“ beteiligt waren. So mancher brave Nachbar wurde plötzlich zum Räuber und Sadisten. Und sehr oft war der f reundliehe Mensch von nebenan, der jetzt sein wahres Gesicht zeigte, kein ganz Armer, sondern Handwerksmeister, mittlerer Angestellter, Akademiker. Etwa in der Josefstadt, wo ein Gastwirt, ein Zuckerbäcker, ein Geschäftsmann, ein Installateur, ein Zahntechniker und ein Drechsler in Judenwohnungen einbrachen, die Familien mit Eisenstangen und Pistolen bedrohten, ausraubten, auf die Straße trieben und zum Gespött des Pöbels aller Klassen machten.

Nur ein Bruchteil dieser Geschehnisse wurde später bekannt. ;,Für viele Verbrechen, die an diesem Tag begangen wurden“, schrieb 1946 eine Wiener Zeitung, „gibt es keine Ankläger und keine Zeugen mehr: die Gaskammern von Auschwitz haben sie zum Verstummen gebracht.“

Selbstverständlich gab es im November 1938 auch Menschen, die halfen. Ebenso selbstverständlich gab es unbeteiligte Gaffer. Auf dem Klagenfurter Gericht, das im März 1947 feststellen mußte, ob ein Angeklagter nur gegafft oder doch mitgetan hatte, lastete eine besondere Verantwortung. Es gelangte glücklicherweise zur Erkenntnis, der Angeklagte habe den SA-Zug der Villacher Hochschüler, die in die Wohnung einer jüdischen Familie eindrangen und dort Einrichtungsgegenstände zertrümmerten, nur „als stiller Zuschauer bis zu dem Hause der Familie begleitet“. Österreichs Sportsfreunden fiel ein Stein vom Herzen. Der Freigesprochene, ein berühmter Fußballer, konnte am bevorstehenden Länderkampf gegen England in Glasgow teilnehmen.

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