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Neue Behandlungsmethoden vor einer Mauer von Vorurteilen

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„Das Vorurteil ist eine Mauer, von der noch alle Köpf, die gegen sie ang’rennt sind, sich mit blutige Köpf zurückgezogen haben!“ Viel schmerzliche Wahrheit liegt in diesen Worten von Johann Nestroys rothaarigem Titus Feuerfuchs. Wenn nun in Niederösterreich und Wien bei der Betreuung psychisch kranker Menschen neue Wege besch ritten werden, so sind sich die Psychiater dessen bewußt, daß sie solche „blutige Köpf“ riskieren. Allzu oft kommt es derzeit zu Rückfällen von aus Anstalten entlassenen Patienten, die durch eine auf Vorurteilen beruhende Fehleinschätzung und in der Folge davon falsche Behandlung des psychisch Behinderten durch seine Umgebung ausgelöst wurden. Daß etwa in Österreich 40 Prozent aller innerhalb eines bestimmten Zeitraumes in eine Anstalt aufgenommenen Patienten bereits einmal in Anstaltsbehandlung waren, gibt zu denken.

Hofrat Primarius Dr. Alois Marksteiner, Direktor des Niederösterreichischen Landeskrankenhauses für Psychiatrie und Neurologie in Klosterneuburg, argumentiert daher: „Grundlage aller Änderungen muß eine Revision des Bildes vom seelich Kranken sein, die Beseitigung des Stereotyps von seiner Unheilbarkeit und seiner Gefährlichkeit; Hand in Hand mit der Rehabilitierung des Rufes der psychisch Kranken muß eine solche der psychiatrischen Institutionen einhergehen: das allerdings verlangt eine grundlegende Verbesserung in der Qualität der psychiatrischen Krankenhäuser, zusammen mit einer völligen Neuorientierung ihrer Zweckbestimmung - von der Isolierung zur Resozialisierung.“

Mobile Itfiife

In Niederösterreich wurde nun von der Sozialabteilung des Amtes der Landesregierung, in Zusammenarbeit mit Marksteiners Krankenhaus, ein „psychosozialer Dienst“ eingerichtet, dessen erklärtes Hauptziel es ist, die Wiederaufnahme entlassener Patienten des Klostemeuburger Krankenhauses zu verhindern. Die neue Einrichtung soll zweifach wirken: als mobile persönliche Hilfe durch eine Nachbetreuung der entlassenen Patienten und als ständige Beratungsstelle.

Vorläufig besteht sie in Mistelbach und Wiener Neustadt, soll aber, wenn der erwartete Erfolg eintritt, auf andere Bezirke Niederösterreichs ausgedehnt werden. Ärzte und Sozialar beiterinnen bieten dabei vielfältige Hilfe an, von der einfachen Beratung in sozialen Dingen, von der Kontaktherstellung zu Ämtern, Behörden, Arbeitsmarktverwaltung, Heimen, Rehabilitationseinrichtungen bis zu Einzel-, Gruppen- und Soziotherapie. Erweist sich die Einweisung ins Krankenhaus als unvermeidbar, soll der Arzt der Außenstelle der Betreuung des Patienten in der Anstalt beigezogen und damit eine Kontinuität der Behandlung und die gewonnene Vertrauensbasis aufrechterhalten werden. •

Fast gleichzeitig verkündete auch Wiens Gesundheitsstadtrat Dr. Alois Stacker neue Maßnahmen auf diesem Gebiet in der Bundeshauptstadt:

• Schaffung von psychohygienischen Beratungs- und Betreuungstellen in ganz Wien,

• Ausbau von ambulanzartigen Einrichtungen (Tageskliniken) für psychisch Kranke,

• Gründung einer Wohngemeinschaft, um zunächst probeweise eine intensive Nachbetreuung psychisch Kranker durchzuführen, die bei Bewährung ausgedehnt werden soll.

Alle diese Neuerungen werden in Zusammenarbeit mit der Wiener Psychiatrischen Universitätsklinik durchgeführt. Oberarzt Dr. Heinz Katschnig - Spezialgebiet Sozialpsychiatrie - teilt den nun auch in Österreich immer mehr Fuß fassenden weltweiten Humanisierungsprozeß bei der Betreuung seelisch Kranker in drei Entwicklungsphasen ein: „Den ersten Fortschritt gegenüber den bis dahin unmenschlichen Zuständen in den meist überfüllten Irrenanstalten bedeutete, begünstigt durch das Aufkommen der Psychopharmaka, eine Entlassungswelle. Bald darauf stellte man die Notwendigkeit einer gewissen Nachbetreuung, fest, um Rückfälle zu verhindern, und schließlich erwies sich auch eine Zuwendung zum gesamten sozialen Netzwerk, das den Patienten umgibt, als unumgänglich.“

Ausgangspunkte dieser Entwicklung waren schon vor rund 25 Jahren die anglo-amerikanischen Staaten. In Österreich beginnt man erst jetzt, aber erfreulicherweise voll, mit der zweiten und ansatzweise mit der dritten Phase. Mit der Schaffung alternativer Betreuungsmöglichkeiten - wie etwa Tageskliniken, wo die Patienten tagsüber betreut und über Nacht nach Hause entlassen werden, oder Wohnheimen, wo die Patienten gemeinsam wohnen, tagsüber aber einem normalen Beruf nachgehen - ist es noch nicht getan. Es bedarf der Einbeziehung der Angehörigen des psychisch Kranken und der Situation an seinem Arbeitsplatz, um der Behandlung größtmögliche Wirkung zu verleihen. Katschnig plädiert für „Rehabilitationsketten“, die einem - ohne Begleitmaßnahmen sicher hilflosen - entlassenen Patienten helfen sollen, langsam immer selbständiger zu werden, um schließlich sein Leben mehr und mehr selbst organisieren zu können.

Den Angehörigen müßten daher auch möglichst genaue Leitlinien für den Umgang mit dem Kranken vermittelt werden, der Durchschnittsbürger müßte lernen, zwischen den wichtigsten psychischen Krankheiten zu unterscheiden, statt, wie bisher leider oft, jeden gegenwärtigen und womöglich sogar ehemaligen Insassen einer Anstalt als „Verrückten“ einzustufen. Um Verständnis zu werben, nützt nach Katschnigs Meinung nichts, nur der Kontakt mit psychisch Gestörten kann möglicherweise Vorurteile abbauen helfen.

Dezentralisierung

Die Öffnung der Anstalten ermöglicht diesen Kontakt. Schon jetzt veranstaltet das Landeskrankenhaus Klosterneuburg Ausflüge und Ausstellungsbesuche für die Kranken. Wenn die Nachbetreuungsstellen voll funktionieren, steht laut Hofrat Mark- steiner einer Entlassung von mehr als 200 seiner fast 900 Patienten nichts im Wege. Die monströse Irrenanstalt alter Prägung - Wien-Steinhof hat beispielsweise 2600 Betten! — sollte daher schon bald einer düsteren Vergangenheit angehören, denn man will immer mehr nach Dezentralisierung und kleinen überschaubaren Einheiten streben.. ‘

Allen» die weiter hinterher Mauer des Vorurteils verharren, die psychisch Kranken seien weitgehend unheilbar oder gemeingefährlich, kann Katschnig mit wissenschaftlich erarbeiteten Zahlen gegenübertreten. Die meisten Patienten können nach kürzester Zeit entlassen werden, die Zahl der Rückfälle und der Zwangseinweisungen ist in den Ländern, wo das Nachbetreuungssystem bereits entsprechend ausgebaut ist, viel geringer. Schließlich werden von Geisteskranken nicht mehr Gewaltverbrechen verübt als es ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung entspricht. Aber Vorurteile sind zäh. Auf die Dauer auch zäher als wissenschaftliche Erkenntnisse?

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