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Neue Erkenntnisse zum Gr uber-Degasper i- Abkommen

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Bisher in Österreich noch weithin unbekannt geblieben, wurde von der Region Trentino-Südtirol als Sonderausgabe der auch sonst eher aufwendig und auch graphisch sehr schön gestalteten Zeitschrift „Regione Trenti- rio-Alto Adige - Region Trentino-Südtirol” im Dezember 1976 ein im Lexikonformat gestalteter stattlicher Band von 250 Seiten mit vielen Bildern und Faksimile herausgebracht, der der Erinnerung an den Abschluß des Gru- ber-Degasperi-Abkommens vom 5. September 1946 (meist Pariser Vertrag genannt) gewidmet ist, zugleich aber neue Erkenntnisse zu diesem Vertragswerk liefern soll.

• Der Vertrag wird in Faksimile abgedruckt, also nur im einzig authentischen englischen Wortlaut Die auch in letzter Zeit wieder in Südtirol laut gewordene Kritik an der nur für den italienischen Rechtsbereich gültigen italienischen Übersetzung (Gazzetta Ufficiale n. 295 vom 24. Dezember 1947) mit dem Vorwurf der Fälschung dessen, was überhaupt gemeint war, einem Vorwurf, den der bedeutende lothringische Sprachforscher Leo Weigerber in gediegenen Gutachten schon früher publiziert hat, bleibt dabei unberücksichtigt. Eine amtliche deutsche Übersetzung gibt es überhaupt nicht.

Die Region Trentino-Südtirol hat sehr viel Mühe aufgewendet, um diesen Band zu einem Standardwerk über die Entstehung und den seinerzeit angestrebten Inhalt des Abkommens werden zu lassen. Hiezu wurden für den zweisprachigen (deutschen wie italienischen) Text hervorragende Fachleute des internationalen Minderheiten- und Volksgruppenrechts ebenso herangezogen wie Personen, die 1946 am Zustandekommen des Abkommens beteiligt waren und auch einige anerkannte Experten für das Problem! SüdtiroL Den Schluß bilden Stftteme.nts ;der in der Region (im Regionalrat) vertretenen politischen Parteien, daher auch der Trentiner Tiroler Partei, der Neofaschisten (MSI) und der KPL

Prüft man den Inhalt der Publikation, so interessiert am meisten der Beitrag von Ennio di Nolfo, der über die Vorarbeiten zu einer amerikanischen Südtirol-Politik im Jahre 1943 berichtet. Man erfährt, mit welchem Widerwillen sich seinerzeit Wilson die Zustimmung zur Brennergrenze hatte entreißen lassen und wie auch 1943 das State Department in zwei Kommissionssitzungen unter Sumner Welles grundsätzlich gegen die Brennergrenze war, da die Mehrheit der Österreicher gegen eine Union mit dem nationalsozialistischen Deutschland und die Brennerlinie daher nicht im Interesse des Friedens gelegen sei. Auch Byrnes hielt noch im März 1946 eine Volksabstimmung für ein gerechtes Mittel zur Lösung der Südtirolfrage. Dies alles wird auch durch Abdruck der Dokumente belegt.

Wenn es dennoch nicht dazu kam, so waren vielerlei Faktoren dafür maßgebend, vor allem die eindeutige Unterstützung Italiens durch Bevin, die schon vor dem Erscheinen des neuen Standardwerkes bekannt war, während andere Faktoren in dem Beitrag von Pietro Pastorelli, Universität Rom, aufgehellt werden. Pastorelli stellt heraus, daß vor allem das britische Foreign Office gegen den österreichischen Standpunkt aufgetreten sei, da Österreich gemäß der Moskauer Erklärung vom 1. November 1943 „seiner Verantwortung für die Teilnahme am Krieg an der Seite Hitlerdeutschlands nicht entgehen” könne, es keine österreichische Exilregierung gab, die Österreicher in der deutschen Wehrmacht gekämpft hätten und die deutschsprachige Bevölkerung Südtirols „nationalsozialistische Gefühle bei den Optionen von 1939 und während des Krieges zum Ausdruck gebracht” habe. Pastorelli erklärt aber, daß auch der amerikanische Präsident sich schließlich für den italienischen Standpunkt ausgesprochen habe. Italien wollte seinerseits zwei kleinen Grenzkorrekturen zustimmen, nämlich am Reschenpaß die Grenze bis zur Wasserscheide verschieben und das Sextental und oberste Drautal bis zum Toblacher Sattel einschließlich der Orte Innichen und Sexten an Österreich abtreten. Aber auch dazu kam es, nach Pastorelli, nicht, mit der Begründung, daß Österreich für „seinen Bund mit dem Hitlerreich nicht durch einen Gebietszuwachs belohnt” werden dürfe. Außerdem hätten die Außenminister der vier Großmächte abschließend erklärt, der ethnische Grundsatz habe nicht nur keine Rolle zu spielen, sondern laufe bei der Aushandlung des Friedens den dabei maßgebenden Kriterien geradezu zuwider. Diese Ausführungen sind sicher richtig, denn in allen Friedensverhandlungen und Friedensschlüssen von 1946/47 wurden ethnische Gesichtspunkte mit Füßen getreten (Polen, ČSSR, Ungarn, Rumänien, Jugoslawien usw.), was dann zu dem bis heute vielfach schwelenden Nationalitätenkonflikt in vielen Staaten geführt hat.

Uber das Gruber-Degasperi-Ab- kommen selbst finden sich in dem Buch eine Reihe sehr bedeutender Abhandlungen von Experten des öffentlichen Rechts. So behandelt Alessandro Pizzorusso, heute wohl einer der bedeutendsten Autoren auf dem Gebiete des Minderheitenrechts und unzweifelhaft viel südtirolfreundlicher als Pastorelli, die Frage der Rechtswirksamkeit des Abkommens. Er bejaht die unveränderte Geltung des Abkommens, zweifelt aber, mit vielen anderen, ob die Einfügung des Abkommens in den italienischen Friedensvertrag vom 10. Februar 1967 als Anhang („allegato”) eine italienische Verpflichtung auch gegenüber den anderen Unterzeichnern des Friedensvertrages bedeute. Er verweist aber darauf, daß nicht ein einziger Unterzeichnerstaat jemals irgendetwas unternahm, um allfällige Nichterfüllung zu, beąnstanden. Die größte rechtliche Bedeutung habe das Abkommen dadurch erlangt, daß es wegen seiner Einfügung in den Friedensvertrag kraft Gesetzes zur Anpassung des italienischen Rechtes an den Friedensvertrag kam und das Pariser Abkommen „in das italienische Recht hineingeschleust wurde”. Pizzorusso verweist, mit ausdrücklichem Bedauern, darauf, daß Italien seinen sprachlichen Minderheiten gegenüber Mißtrauen an den Tag lege und dies bis heute, wie die Urteile des Verfassungsgerichtshofes Nr. 86/1975 und 34/1976 erhärteten, wobei nur ein negativer Schutz der Minderheiten (gegen Diskriminierung), nicht aber ein positiver anerkannt werde. Dies entspringe einem prinzipiell antiregiona- listischen und antiautonomistischen Geiste.

Bemerkenswert sind die Beiträge des Wiener Zeitgeschichtlers Dr. Karl Stuhlpfarrer über die Entstehung des Gruber-Degasperi-Abkommens mit der Herausstellung der Tatsache, daß Österreich wie Italien darangegangen seien, die (unerfreulichen) politischen Differenzen der Vergangenheit zu bewältigen. Umberto Corsini liefert einen Beitrag über den Ursprung des Abkommens in der italienischen Innenpolitik, wobei ebenfalls sehr wichtige neue Erkenntnisse dargeboten werden, der Verfasser des vorliegenden Artikels behandelt das Gruber- Degasperi-Abkommen als Beitrag zur Lösung von Minderheitenproblemen in Europa und insoweit als großen Fortschritt im Jahre Null eines internationalen Minderheitenschutzes, weist aber nach, daß das Abkommen nur als Surrogat für das (nicht gewährte) Selbstbestimmungsrecht der Südtiroler (mit Plebiszit über die Möglichkeiten eines Gebietsüberganges auf Österreich, des Verbleibs bei Italien oder der Schaffung eines selbständigen Paßstaates) seitens der Südtiroler selbst und wohl auch seitens Österreichs gedacht war. Noch optimistischer beurteilt Felix Ermacora in einem kurzen Beitrag das Abkommen als einen sehr großen Schritt nach vom, was auch in einem Text des Außenministers Karl Gruber vom 18. Dezember 1947, der abgedruckt wird, einen gewissen Niederschlag findet.

Unter den Statements der politischen Parteien ist jenes des Abgeordneten Pietro Mitolo von den Neofaschisten (MSI) besonders bemerkenswert. Mitolo, der konsequenteste Gegner der Südtiroler unter allen bisher bekannten Autoren (Mario Toscano, Carlo Battisti und Giuseppe Frizzi nicht ausgenommen), behauptet, das Pariser Abkommen sei das Werk der KPI und der antifaschistischen Widerstandsbewegung, die auch heute noch die italienische Regierung beherrsche, der „ethnische Proporz” des „Pakets” sei verfassungswidrig, Österreich mische sich in innere Angelegenheiten Italiens ohne Rechtsgrund ein, die Revision der Optionen von 1939 sei unzulässig gewesen und mit dem „Paket” sei man weit über die Verpflichtungen aus dem Pariser Vertrag hinausgegangen.

Erwähnt sei noch, daß auch der durch ein hervorragendes Buch über die Südtirolfrage wie überhaupt durch Studien über Minderheitenfragen bekannt gewordene englische Autor Anthony E. Alcock, New University of Ulster, einen Beitrag über das Gruber- Degasperi-Abkommen im Lichte der jüngsten Entwicklung hinsichtlich der Theorie des Minderheitenschutzes beigesteuert hat. Der Beitrag, so südtirolfreundlich er ist, hält aber nicht, was sein Titel verspricht.

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