6888654-1979_38_06.jpg
Digital In Arbeit

Neue Hungerkrise steht bevor

Werbung
Werbung
Werbung

Derzeit gibt es mehr hungernde Menschen auf der Welt als je zuvor: mehr als eine Milliarde Menschen haben nicht genug zu essen, mehr als 450 Millionen Kinder sind in den unterentwickelten Ländern unterernährt und krank. Vitamin-A-Mangel verursacht jährlich bei 250.000 Kindern Blindheit. Diese alarmierenden Zahlen legte ein Experte des UN- „World Food Council” (Welt-Emäh- rungs-Rat) vor kurzem bei einer Sitzung in Ottawa (Kanada) vor.

„Die Steigerung der Nahrungsmittelversorgung für 450 Millionen unterernährte Menschen würde 40 bis 50 Millionen Tonnen Getreide erfordern”, führte ein französischer „Getreidediplomat” an, fügte aber hinzu: „Aber wo können wir heute einen solchen Getreideüberschuß finden, zwingt doch eine schlechte Ernte die Sowjets heuer wieder einmal dazu, Getreide zu kaufen, wo sie es nur auftreiben können?”

In einem Gutachten des Welt-Er- nährungs-Rats wird die Situation so geschildert: „Von einem globalen Gesichtspunkt aus ist die Welt derzeit auf Einfuhren angewiesen, um das Nahrungsmittel-Defizit decken und Lebensmittel letztlich sichern zu können. Als Kornspeicher der Welt kommt dafür Nordamerika als einzige Hauptregion in Betracht, denn sie liefert 80 Prozent der gesamten Getreideausfuhren an die übrige Welt.”

Außer den Vereinigten Staaten und Kanada sind Australien, Frankreich sowie Argentinien die großen Getreide-Exporteure. In diesen und in einigen kleineren Exportländern gibt es derzeit rund 200 Millionen Tpnnen an Getreide-Reserven, die durch sowjetische Ankäufe aber wesentlich vermindert werden können.

1978 hatte die Sowjetunion eine Rekordernte: 238 Millionen Tonnen. Dieses Jahr aber wird die gesamte sowjetische Getreideernte bestimmt unter 200 Millionen Tonnen hegen. Die Sowjets hoffen deswegen, mindestens 30 bis 32 Milhonen Tonnen Getreide in den USA und anderswo kaufen zu können.

Die jährlich schwankenden sowjetischen Ankäufe verursachen Inflation und treiben die Preise in die Höhe. Nach den enormen Ankäufen von 1972 und 1974 und den relativ geringen Erwerbungen von 1973 und 1978 haben die Vereinigten Staaten mit Moskau ein Abkommen über „jährlich ausbalancierte Einkäufe” unterzeichnet. Demnach müßte Moskau jährlich fünf bis acht Millionen Tonnen Getreide von den USA kaufen. Wenn es aber mehr wünscht, muß das von Washington gebilligt werden.

Warum überhaupt kann die Sowjetunion ihre eigene Bevölkerung nicht ernähren? Die Behörden behaupten, daß es vor allem auf das unberechenbare Wetter in den riesigen Regionen zurückzuführen sei. Das ist aber nur ein Grund: Das gesamte Landwirtschaftssystem ist veraltet, die Kooperativgüter sind schlecht mechanisiert, die Kunstdünger von niedriger Qualität. Dazu’kommt: In der Sowjetunion ißt man viel mehr Brot als anderswo.

In den Vereinigten Staaten produzieren drei Millionen Farmer mit vier Millionen landwirtschaftlichen Arbeitern genug Getreide für die eigene Bevölkerung und dazu einen Überschuß für unterentwickelte Länder. In der Sowjetunion hingegen arbeiten jährlich 60 bis 70 Millionen Menschen in der Landwirtschaft, die Produktion reicht aber nicht einmal für die eigene Bevölkerung aus. Die sowjetische Produktion pendelt zwischen 180 und 230 Millionen Tonnen, die amerikanische beträgt jährlich zwischen 230 und 240 Millionen Tonnen.

Zugegeben: die amerikanische Landwirtschaft ist hochmechanisiert, während die UdSSR nur die Hälfte der amerikanischen Traktorenzahl besitzt, und selbst von dieser sind viele veraltet und unbrauchbar. Aber den Sowjets fehlen überhaupt entsprechende Produktionsmethoden und die Landwirtschaft müßte vollkommen modernisiert werden.

Indes kann ein bemerkenswerter Fortschritt in manchen Entwicklungsländern festgestellt werden, besonders in Indien, wo die Nahrungsmittel-Produktion neue Spitzenwerte erreicht hat. „World Food Council” ist aber der Ansicht, daß wir eine systematischere Ernährungs- Strategie brauchen, damit die Produktion und Verteilung in der Welt verbessert werden kann.

Auf der Hungerkarte der Welt ist Kampuchea (Kambodscha) zur Zeit der besorgniserregendste Fleck. Nach Schätzungen vegetieren dort zwei Millionen Menschen am Rande des Hungertodes, während der Krieg zwischen den vietnamesischen Okkupanten und den Pol Pot-Rebellen andauert. Von den Welt-Getreide-Re- serven sollten rasch große Mengen nach Kambodscha gesandt werden, nur weiß man nicht einmal, ob sie das hungernde Volk überhaupt bekommen’ würde, da die Verteilung von den vietnamesischen Besatzern abhängt.

Die „Ernährungsdiplomaten”, die im Juli in Rom getagt haben, wiesen darauf hin, daß sich in diesem Jahr eine neue Nahrungsmittel-Krise entwickeln kann, ähnlich der von 1972 bis 1973.

Neben der Produktion und Verteilung gibt es bei der Nahrungsmittelversorgung aber noch ein weiteres Problem: die Lagerung. In zahlreichen asiatischen und afrikanischen Entwicklungsländern können die Vorräte in den unangemessenen Lagerstätten vor den Millionen Ratten nämlich nicht einmal geschützt werden …

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung