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Neue Klischees

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Es klingt wie ein Witz: Der Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger unterstellt den Zahnärzten, aus gesellschaftspolitischen Motiven Verhandlungen über eine Vertragserneuerung zu torpedieren. Ein ganz neues Argument. Bisher las man immer, daß die Ärzte nur materiell motiviert wären.

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Es klingt wie ein Witz: Der Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger unterstellt den Zahnärzten, aus gesellschaftspolitischen Motiven Verhandlungen über eine Vertragserneuerung zu torpedieren. Ein ganz neues Argument. Bisher las man immer, daß die Ärzte nur materiell motiviert wären.

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Der Vertrag zwischen den Krankenversicherungsträgern und den Zahnärzten ist mit 19. Mai ausgelaufen. Das Forderungspaket der Zahnärzte soll insgesamt eine Erhöhung der Honorare um 68 Prozent beinhaltet haben. Der Hauptverband bot von sich aus eine neunprozentige Erhöhung der Vertragshonorare an.

Die Tatsache, die den einzelnen Krankenversicherten trifft, ist bei

allen Zahlenspielen aber die, daß er nun die Zahnarzthonorare selbst bezahlen muß und durchschnittlich 50 Prozent dieser Honorare von der Kasse irgendwann einmal refundiert erhalten wird. Ohne die Freiberuflichkeit der Zahnärzteschaft antasten zu wollen, handelt es sich bei diesem

Streit um eine analoge Situation, wie wir sie bei jeder Lohnrunde kennen. Betrüblich dabei ist, daß Dritte die Leidtragenden sind, nämlich die Patienten.

Wo die Schuld für diese Nichteini-gung liegt, ist für Außenstehende schwer abzuschätzen. Eines steht jedoch fest: Eine zahlenmäßige Minorität steht einem potenten Apparat gegenüber. Ob nun die Forderungen der Zahnärzteschaft gerechtfertigt sind oder nicht — eine parteipolitische Unterstützung zu erlangen, wird den Zahnärzten schwerfallen.

In unserer Demokratie gilt das Gesetz der großen Zahl. Wer sich der Interessen der Zahnärzte annimmt, verärgert die Krankenversicherten. Welche Partei hätte schon den Mut, sich für die Interessen einer in einem Wahlkampf zahlenmäßig uninteressanten Gruppe einzusetzen und dadurch die Sympathien bei einer großen Zahl der Wähler allenfalls aufs Spiel zu setzen? Geschickt haben die Sozialisten, gestärkt durch einstimmige Beschlüsse (an denen sich sowohl Arbeitnehmer als auch Arbeit-gebervertreter beteiligt haben), die Wahrheit auf den Kopf gestellt. Nicht den Zahnärzten ging es um gesellschaftspolitische Ziele! Bei ihnen gab die Tatsache den Ausschlag, daß der vom Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger vorgelegte neue Vertrag in den häufigen in einer Zahnarztordination anfallenden Positionen eine Einkommensminderung bedeutet hätte.

Ohne es dem Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger unterstellen zu wollen, drängt sich die Vermutung auf, daß ein längerer vertragloser Zustand zwangsläufig die Krankenkassen verhalten würde, ihre Zahnambulatorien auszubauen und durch neu zu errichtende zu ergänzen. Derartige Einrichtungen könnten nur zu leicht auf Jungzahnärzte eine große Sogwirkung ausüben. Insbesondere dann, wenn die Honorierung einen Anreiz für die Annahme einer unselbständigen Erwerbstätigkeit böte. Auf

diese Weise könnte die zahnärztliche Versorgung durch frei praktizierende Zahnärzte, die heute schon in bestimmten Gebieten unseres Landes gefährdet oder unmöglich geworden ist, ausgeschaltet werden.

Der jüngst mit großer Mehrheit aus den Kammerwahlen hervorgegangene Ärztekarnimerpräsident der Steiermark, Richard Piaty, hat eine Solidarität aller Ärztegruppen verlangt. Auch der Präsident der österreichischen Ärztekammer, Daiume, ist dieser Forderung beigetreten. Aus dieser Haltung der Ärztevertreter könnten sich manche Konsequenzen für die Verträge zwischen Ärzten und Krankenkassen ergeben. Diese wären sicherlich nicht dim Interesse der Patienten, und es ist daher zu hoffen, daß von ärztlicher Seite keine Konsequenzen gezogen werden. Anderseits aber müssen die politischen Kräfte des Landes endlich einmal

Farbe bekennen. Man kann nicht die Freiheit predigen und gleichzeitig zusehen, wie einem freien Berufsstand der Atemweg weggenommen wird.

Wenn man noch dazu bedenkt, daß seitens der Krankenversicherung behauptet wird, die Honorare für die gängigen Positionen kräftig zu erhöhen, in Wirklichkeit aber die angestrebte Vertragsänderung zu einer Halbierung der Leistung beispielsweise bei einer Extraktion führt, wenn man weiter bedenkt, daß die für alle unselbständigen Krankenversicherten bezahlten Honorare im Durchschnitt kaum die Unkosten eines durchschnittlichen Zahnarztes decken, wird einem klar, daß in diesem Streit ökonomische Fragen im Hintergrund bleiben. Es dominiert die Frage, wie man die Zahnärzteschaft in den Griff bekommen kann.

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