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Neue Koalition–mobil und demokratisch?

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Österreich steht wahrscheinlich der originellste Wahlkampf seit 1945 bevor. Nämlich ein Wahlkampf, in dem beide Großpar- teien sozusagen mit offenen Karten Poker spielen, weil jede von sich selber genauso gut wie von der anderen weiß, daß sie das, was sic zu wollen behauptet, nämlich eine absolute Mehrheit, nicht erreichen kann. Zugleich aber wird der Wahltag im Herbst 1975 nicht ein Wahltag wie alle vier Jahre, sondern einer der großen Lostage für die österreichische Demokratie sein.

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Österreich steht wahrscheinlich der originellste Wahlkampf seit 1945 bevor. Nämlich ein Wahlkampf, in dem beide Großpar- teien sozusagen mit offenen Karten Poker spielen, weil jede von sich selber genauso gut wie von der anderen weiß, daß sie das, was sic zu wollen behauptet, nämlich eine absolute Mehrheit, nicht erreichen kann. Zugleich aber wird der Wahltag im Herbst 1975 nicht ein Wahltag wie alle vier Jahre, sondern einer der großen Lostage für die österreichische Demokratie sein.

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Vieles, fast alles spricht dafür, daß mit jenem Sonntag im Herbst, an dem die Österreicher einen neuen Nationalrat wählen, die dritte Phase in der Geschichte der österreichischen Innenpolitik nach dem Zweiten Weltkrieg eingeleitet wird. Dieser Tag wird, wie die Dinge liegen, mit größter Wahrscheinlichkeit die Jahre der Alleinregierungen, die fast ein volles Nachkriegsjahrzehnt lang Österreichs politische Landschaft prägten, beenden. Es waren jene Jahre, in denen es Österreich gelang, die Tabus der Besatzungszeit, in denen der Konsensus der Großparteien in grundsätzlichen Fragen absolute Priorität genoß, endgültig ab- zustreifen und insofern eine moderne Demokratie zu werden, als keine Großpartei mehr eine Erbmehrheit in der Tasche und keinen Grund hat, sich auf lange Sicht von der Retgierungsverantwortung ausgeschlossen zu fühlen.

Die Gründe, warum eine absolute Mehrheit für eine der beiden Großparteien diesmal an ein Wunder grenzen würde, haben wir kürzlich (FURCHE Nr. 6/1975, S. 3) ausführlich dangelegt. Die großen politischen Trends, die in den letzten Landtagswahlen auch in Österreich deutlich in Erscheinung traten, werden wahrscheinlich die Folgen der neuen, absolute Mehrheiten erschwerenden Wahlordnung zu Ungunsten der derzeitigen Regierungspartei verschärfen.

Im Regierungs Lager sieht so mancher schon die SPÖ dn einer neuen „kalten Koalition“ mit der FPÖ nach dem Muster der Jahre 1970 und 1971. Eine kleine Koalition einer der beiden Großparteien mit der FPÖ, ob eine kalte oder eine heiße, wäre zwar auch ein absolutes Novum, würde aber alles andere als erfreuliche Perspektiven für die österreichische Zukunft eröffnen. Aber sie hat auch innerhalb des sozialistischen Lagers weniger Freunde, als es gelegentlich scheinen mag.

Hingegen wird allenthalben eifrig von neuen Formen der politischen Zusammenarbeit zwischen den großen Lagern geredet. Freilich redet man darüber öffentlich weniger, als weniger öffentlich. Schweizer Modelle werden beschworen, Konzentrationsmodelle analysiert, Koalitionsgespenster zitiert. Poker mit offenen Karten: Jeder gibt sich siegessdcher und weiß, daß er wenig Chancen auf einen totalen Sieg hat, jeder weiß, daß in der Gunst des Wahlvolkes die Zusammenarbeit der großen Parteien gleich hinter dem Wunsch nach der klaren, sprich absoluten Mehrheit rangiert.

Angesichts des schlechten Nachrufes, den die Koalitionsregierungen der ersten beiden Nachkriegsjahrzehnte genießen, können die Sympathien für eine Zusammenarbeit von SPÖ und ÖVP in breiten Kreisen, die in Meinungsumfragen immer wieder zutage treten, nur wunder nehmen — und als ein ausgezeichnetes Zeugnis für die Kompromißbereitschaft und politische Vernunft der Österreicher verstanden werden. Da offenbar ein großer Teil des Wahl- volkes eine absolute Mehrheit und alleinige Regierungsverantwortung für eine Partei am liebsten sehen würde, war die Reform der Wahlordnung zugunsten der FPÖ in jeder Beziehung ein Rückschritt. Nun haben wir sie aber — und zumindest für diesmal haben wir sie ganz bestimmt.

Wie könnten neue Formen, die Regierungsverantwortung auf die Schultern zweier großer Parteien zu legen, aussehen, wenn die SPÖ ihre absolute Mehrheit verliert und die ÖVP keine absolute Mehrheit ge winnt? Theoretisch wäre natürlich auch eine Konzentra’tionsregierung möglich, das heißt eine AJlparteien- regierung. Der steirische Landeshauptmann Niederl hat sie nach vergeblichen Versuchen in dieser Richtung, die in der Ersten Republik unternommen wurden und damals sehr zum Schaden dieses Landes und vielleicht der Welt fehlschlugen, und nach diesbezüglichen Vorschlägen Krainers wieder einmal zur Diskussion gestellt. Fritz Klenner wog in der „Zukunft“ Vor- und Nachteile einer solchen Kombination sowie ihre verfassungsmäßigen Implikationen ab.

In der Schweizer Verfassung ist dieses System bekanntlich institutionalisiert, aber wer da meint, auf diese Weise die Nachteile der österreichischen Nachkriegskoalitionen vermeiden und dafür die Vorteile der Schweizer Demokratie einheimsen zu können, täuscht sich möglicherweise. Wir sollten in dieser Beziehung skeptisch sein wie George Bernard Shaw, der den scherzhaften Vorschlag einer Dame („Ein Kind von uns beiden, stellen Sie sich das vor — meine Schönheit und Ihre Intelligenz!“) mit den Worten zurückwies: „Und wenn es meine Schönheit bekommt und Ihre Intelligenz?“

Zudem ist zu beachten, daß eine temporäre Zusammenarbeit aller drei im Nationalrat vertretenen Parteien nichts brächte, was die beiden Großen nicht auch könnten, und die FPÖ (nebst allen Schatten der Vergangenheit, die sie verkörpert) nur unnötig aufwerten würde. Während eine Institutionalisierung eines solchen Modells doch wohl als jene Totalreform der österreichischen Verfassung zu betrachten wäre, die einer Volksabstimmung zu unterwerfen wäre und dabei einer Zweidrittelmehrheit bedürfte, die wohl nicht zuletzt an der politischen Reife und an der praktischen Vernunft der Österreicher scheitern würde.

Besinnt man sich der vielen Bekundungen, Zusammenarbeit wäre doch wohl das Beste, wenn einer allein nicht regieren kann, die man in letzter Zeit gehört hat, so scheint es keineswegs mehr sicher, daß die SPÖ ihrem Chef und derzeitigen Bundeskanzler willig (oder willenlos) in eine tiefere Verstrickung mit der FPÖ folgen würde — sollte er überhaupt gesonnen sein, sie diesen Weg zu führen. So zeigen denn Österreichs politische Barometer deutlicher als irgendwann jemals seit dem Tag, an dem die alte Koalition starb und die ÖVP in die Alleinregierung ging, auf ein neues Miteinander der Großparteien.

Aber so deutlich wie der Wille eines großen Teües des Wahlvolkes, das von „Zusammenarbeit“ schwärmt, ist auch die Überzeugung, daß fast alles besser wäre als eine Koalition, wie wir sie zumindest zwischen Staatsvertrag und 1966 hatten. Denn damals wurde das Wort Koalition zum Synonym für Immobilität, für gegenseitiges Blockieren, für Ineffizienz.

Wie könnte man es nun besser machen? Vielleicht müßte man zuerst fragen, woran unser erstes Koalitionszeitalter gescheitert ist. Es wäre sehr unklug, die Leistungen der Koalitionsregierungen zwischen ÖVP und SPÖ zu verteufeln oder auch nur zu schmälern, denn ihre Gesamtbilanz war hochaktiv. Bedenken wir doch, daß dieser Staat in der Stunde Null seiner Existenz sehr wenig Positives vorgefunden hat, worauf er zurückgreifen konnte, dafür viele Handikaps. Unser Parlamentarismus hatte bereits vier Jahre vor Hitler zu bestehen aufgehört, in keinem der großen Lager gab es das unangefochtene Bekenntnis zur parlamentarischen Demokratie als Grundlage unserer österreichischen eigenstaatlichen Existenz. Bis 1938 hatten sich die Österreicher als verlorenes Überbleibsel der Donaumonarchie die einen, als Vorhut des Großdeutschtums die anderen empfunden. Beide Großparteien waren bis tief in den Krieg hinein und fast bis zum Kriegsende durch tiefe Gräben voneinander getrennt. Ais Österreich 1945 wieder erstand, lag der Februar 1934 erst ganze elf Jahre zurück, das sollten wir nicht vergessen. Die Geschichte Nachkriegsösterreichs als Geschichte eines Wunders, einer Verständigung, auf die nichts, aber auch gar nichts in der Vergangenheit hingewiesen hatte, wurde noch nicht geschrieben. Sicher hat dabei das Erlebnis der KZ-Kameradschaft eine große Rolle gespielt.

Wenn wir zu verstehen versuchen, warum die erste Koalitionsphase nach 20 Jahren in Immobilität und Bitternis scheiterte, müssen wir uns wieder in unser Bewußtsein rufen, welche Ängste an ihrer Wiege standen, welche Sehnsüchte die Schöpfer der ersten Koalitionsregierungen beseelten.

In den Koalitionsregierungen dieser beiden Jahrzehnte, in den Prokrustesbetten ihrer Koalitionspakte, in den Revierabsteckungsritualen ihrer Proporzregelungen schuf sich der Wille zur Zusammenarbeit als kategorischer Imperativ sein Werkzeug — und schließlich sein Gefängnis. Zwei alte Feinde haben sich in diesen Koalitionspakten zusammengeschmiedet, um jede Gefahr eines nochmaligen gewaltsamen, feind lichen Gegeneinander-Antretens zu bannen.

Gießen wir das Kind nicht mit dem Bade aus. Österreich hat aus der Zerrissenheit der Vorkriegszeit gelernt und das Gelernte 1945 angewendet. Österreich hat die Nachteile der Koalitions-Overprotection erkannt und das Gelernte im Jahrzehnt der Alleinregierungen angewendet. Wir sind reif für eine neue Zusammenarbeit, zumindest als Alternative zu absoluten Mehrheiten, mangels absoluter Mehrheiten. Wenn irgendein Land auf der Welt, dann sollte Österreich, nachdem es aus den harten Lektionen dieses Jahrhunderts mehr gelernt hat als, das kann man ruhig sagen, irgendein anderes Land, heute in der Lage sein, mit unklaren Mehrheitsverhältnissen fertig zu werden. Neue, nachahmenswerte Modelle für eine Zusammenarbeit zu entwickeln, die in jenen Situationen Platz greift, die andere Länder in Dauerkrisen stürzen. Nämlich dann, wenn keiner allein regieren kann, keiner den anderen regieren lassen und keiner mit dem anderen Zusammenarbeiten will. Wir haben den außerordentlichen Vorteil, auf Erfahrungen im Bewältigen einer solchen Situation zurückgreifen zu können, wobei die negativen Erfahrungen so wertvoll sind wie die positiven.

Eines Geistesblitzes bedarf es dabei nicht mehr, denn entsprechende Denkmodelle sind offensichtlich auf beiden Seiten im Entstehen begriffen, und es ist nur zu begrüßen, wenn dieser Denkprozeß — auf beiden Seiten — ungeachtet aller Beteuerungen, darüber werde man erst nach den Wahlen nachdenken oder gar reden, zügig vonstatten geht. ÖVP-Generalsekretär Kohlmaier hat in einem Interview einige mögliche Elemente einer wiederbelebten Koalition angedeutet — seine Überlegungen unterscheiden sich nicht allzusehr von manchen, die im sozialistischen Lager angestellt werden.

Eine neue Koalition müßte vor allem die beiden Erbübel der alten vermeiden, nämlich Koalitionspakte und Proporz. Da heute keine Erbfeinde mehr einander gegenüberstehen und der 12. Februar 1934 nicht 11, sondern 41 Jahre zurückliegt, bedarf es nicht mehr der strengen Kodifizierungen zur Ausschaltung jeden Konfliktstoffes.

Man sollte auch die Immobilität unserer Nachkriegskoalitionen nicht verteufeln. Das Vorsichherschieben von Entscheidungen, die den Konsensus zu sprengen drohten, war in einer Zeit, in der die Zusammenarbeit erst erlernt werden mußte, das Weiseste. (Österreichs Nachkriegsgeschichte von diesem Standpunkt aus müßte, wie schon gesagt, erst geschrieben werden.) Heute können Konflikte ausgetragen werden — und zwar in der einzigen einer Demokratie angemessenen Form. Fragen, die den Konsensus der Koalitionspartner sprengen, soll das Volk entscheiden.

Österreich hätte also von der Schweiz nicht das Konzentrationsmodell, sondern das plebiszitäre Element zu übernehmen. Hingegen müßte das Prinzip der Ministerverantwortlichkeit, durch das sich Österreichs Demokratie von der der Schweiz durchaus zu ihrem Vorteil unterscheidet, unangetastet zu bleiben. (Und wenn man darum würfeln müßte, welche Partei welchen Minister stellt. Entweder-oder-Forderungen hätte es da überhaupt nicht zu geben.).

In dem ambivalenten Verhältnis so vieler österreichischer Politiker zur Vision einer neuen Koalition mag durchaus so etwas wie Koalitions- Nostalgie mitschwingen. Geht man an die Ausführung derartiger Pläne, muß unbedingt auch daran gedacht werden, daß sich Denkfehler in der Vorbereitungsphase, beim Abstecken künftiger Marschrichtungen, meist sehr hart rächen.

Einige wesentliche Faktoren, die zu klären wären, wurden bereits vor einem Monat skizziert (FURCHE 3/

1975, S. 1). Die Devise, detailliertere Überlegungen erst dann anzustellen, wenn sie aktuell sind, sprich: nach den Wahlen, mag vom parteitaktischen Standpunkt beider Parteien aus ihre Richtigkeit haben. Von einem übergeordneten staatspolitischen Standpunkt aus kann man nur hoffen, daß im Schatten des bevorstehenden Wahlkampfes möglichst oft, möglichst ernst, möglichst überparteilich und möglichst detailliert darüber diskutiert wird, wie eine neue Koalition aussehen könnte, aussehen sollte, aussehen müßte.

Dies deshalb, weil gerade in einer Phase, in der keine Partei wissen kann, wie in etwaigen Koalitionsverhandlungen ihre Ausgangsposition und damit Interessenlage aussehen könnte, eine Vielzahl von Fragen wesentlich leichter geklärt werden kann. Über Fragen, wie etwa die Modalitäten der Ministerienverteilung, könnte man sich vor der Wahl auf jeden Fall leichter einigen als nach der Wahl. Fände man sich vor der Wahl gar zu formlosen, aber moralisch bindenden Absprachen bereit, könnte man vielleicht sogar vor der Wahl zu einem Koalitionsmodell ohne Juniorpartner in der Regierung gelangen, das so aussehen könnte, daß die stärkere Partei den Kanzler stellt, beide Parteien gleich viele Ministerien bekommen und übergeordnete Fragen, die den Bereich eines Ministeriums überschreiten, im Parlament ohne Klubzwang entschieden werden.

Zweifellos wäre ein Übereinkommen der beiden Großparteien über die Modalitäten einer möglichen Koalition, ohne eine Entscheidung, ob eine Koalition zustande kommt, ein staatspolitisch außerordentlich interessanter und zukunftweisender Schritt. Ebenso zweifellos wird es dazu nicht kommen. Die Alternative kann nur in einer möglichst breiten, exemplarischen öffentlichen Diskussion darüber bestehen, wie eine große Koalition aussehen sollte, falls es dazu kommt. Zu führen von den Unabhängigen, von den Eigenständigen beider Lager — von allen, die über den Wahltag und die Legislaturperiode hinaus denken.

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