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Neue Lebenslüge

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„Stationärer Zustand eines materiellen Systems komplizierter chemischer Zusammensetzung, der aus einem Zusammenwirken aller Einzelbestandteile auf Grund physikalischer und chemischer Wechselwirkungen resultiert.“ Schwer verständlich, nicht wahr? Aber was noch mehr überrascht: So kennzeichnet Meyers Neues Lexikon (1980) den Begriff Leben.

Wer meint, in anderen Werken müsse Profunderes stehen, sei gewarnt. In den gängigen Lexika herrscht Einigkeit darüber, daß Leben nichts als ein kompliziertes physikalisches und chemisches Geschehen sei.

Keine Frage: Die Physik und die Chemie haben etwas mit unserem Leben zu tun. Aber wer findet in der oben zitierten Definition das wieder, was er als das Entscheidende seines Lebens ansieht? Welch seltsame Einigkeit, dieses Geheimnis durch Nebensächliches zu kennzeichnen!

Wie kam es zu diesem Kurzschluß, der mittlerweile Allgemeingut zu sein scheint? Erwin Chargaff, weltbekannter Biochemiker österreichischen Ursprungs, führt dies auf die Methode der Biologie, der Wissenschaft vom Leben, zurück: „Es ist wahrscheinlich kein Zufall, daß unter allen Wissenschaften es die Biologie ist, die ihren eigentlichen Gegenstand (das Leben) nicht zu definieren vermag... In der Tat werden die genauesten Untersuchungen an toten Zellen und Geweben vorgenommen.“

Von der Biologie ist somit keine erschöpfende Antwort auf die Frage nach dem Leben zu erwarten. Dennoch aber klammert sich eine wissenschaftsgläubige Zeit an alles, was zähl- und meßbar ist. Und möglichst allgemeingültig müssen die Aussagen sein: Also wird bei der Beantwortung der Frage, was Leben ist, danach gesucht, was der Mensch und der Co-libazillus gemeinsam haben. Es geht um den kleinsten gemeinsamen Nenner.

Aber verstehen wir das Leben besser, wenn wir entdecken, was wir mit den Einzellern gemeinsam haben? Wohl kaum, wenn uns diese Art von Suche folgende Einsicht beschert: „Die Grenze zwischen Belebtem und Unbelebtem ist nicht scharf zu ziehen.“ (Großes Farbiges Volkslexikon 1981)

Na und? Das mag schon stimmen, hängt aber sicher davon ab, von welcher Warte aus man Lebendes und Unbelebtes betrachtet Für mich besteht doch keine Frage, daß ich eine entscheidend andere Befindlichkeit habe, als das Blatt Papier, auf dem ich schreibe.

Das Ganze wäre nicht der Rede wert, wenn es nicht Einfluß auf unser Welt- und Menschenbild hätte. So werden aber wichtige Begriffe aus der Froschperspektive der Wissenschaft definiert. Im Handumdrehen wird jedoch verdrängt, daß es sich um eine Teü-ansicht handelt, und plötzlich steht eine vielfältige geheimnisvolle Wirklichkeit als wissenschaftlich trivialisiertes Zwergerl vor uns.

Selbst Nobelpreisträger leisten sich da tolle Stücke: „Jetzt können wir endlich den Menschen definieren. Genotypisch zumindest ist er sechs Fuß einer besonderen molekularen Anordnung von Kohlen-, Wasser-, Sauer- und Stickstoff- sowie von Phosphoratomen.“ (Joshua Lederberg, Medizin)

Wem ist aber mit dieser Platitüde geholfen? Wohl niemandem. Denn wirklich interessant am Leben ist doch nur die persönliche Dimension, also mein und dein Leben. Jede Definition, die dem nicht Rechnung trägt, geht am Wesentlichen vorbei — sie mag noch so viele Richtigkeiten enthalten.

Leben hat etwas mit dem Besonderssein des jeweiligen Lebewesens zu tun — auch wenn manches am Leben objektiv meßbar ist. Nur das zu sehen und das Eigentliche unter den Tisch fallen zu lassen, ist ein folgenschwerer Etikettenschwindel.

Darf es uns wundern, daß wir heute so sorglos mit dem Leben umgehen, wenn die Ansicht vor-^ herrscht, da seien ohnedies nur physikalische und chemische Prozesse im Spiel? Wer die Dinge so sieht, wird schwer gegen Tierquälerei, Abtreibung, Handel mit Embryos oder Euthanasie argumentieren können. Warum sollte man sich letztlich für die Aufrechterhaltung chemischer Prozesse in einer sechs Fuß großen Anordnung stark machen?

In älteren Lexika lesen wir noch, daß Leben etwas mit Gott zu tun hat. Vielleicht sollten wir uns von dieser „überholten“ Sicht anregen lassen. Dann würden wir nicht mehr nur vom Menschen abwärts bei Mehrzellern und Viren nach Inspiration über das Leben Ausschau halten.

Statt Ubergänge zum tierischen Leben hochzuspielen, könnten wir das Besondere menschlichen Lebens ins Auge fassen, um es zur Entfaltung zu bringen. Wir würden entdecken, daß wir nicht vorprogrammiert, sondern fähig zur freien Entscheidung, daß wir denk-, liebes- und hingabefähig sind. Wir würden wieder klar sehen, daß der Mensch - trotz vieler Ähnlichkeit mit anderen Lebewesen - sich gleichzeitig als der ganz andere erfährt.

Und statt zu erforschen, was das Leben ist, um es besser zu manipulieren, könnten wir fragen: Wer ist das Leben? Und von diesem Lebendigen lernen. Die Botschaft dessen, der von sich sagte: „Ich bin die Auferstehung und das Leben“, ist gerade für eine derart vom Tod angekränkelte Kultur wie die unsere die große Hoffnung.

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