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Neue Liebe - alte Kirchen

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Als die Touristen aus dem Westen auf Zehenspitzen an den schwarzgekleideten, in Andacht versunkenen, alten Frauen in der Mariä-Himmelfahrtsr Kathedrale im Moskauer Kreml; vorbeischleichen wollten, meinte Galinai die junge Fremdenführerin, kühl: „Das ist ein Museum. Sie brauchen hier nicht leise zu,sein. Um die ,paar Leutchen, die noch hierher zum Beten kommen, sollten Sie sich nicht kümmern. .Diese Menschen stören hier, nicht Siej Qott und diese, Menschen gehören einer-anderen Zeit.an.“

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Als die Touristen aus dem Westen auf Zehenspitzen an den schwarzgekleideten, in Andacht versunkenen, alten Frauen in der Mariä-Himmelfahrtsr Kathedrale im Moskauer Kreml; vorbeischleichen wollten, meinte Galinai die junge Fremdenführerin, kühl: „Das ist ein Museum. Sie brauchen hier nicht leise zu,sein. Um die ,paar Leutchen, die noch hierher zum Beten kommen, sollten Sie sich nicht kümmern. .Diese Menschen stören hier, nicht Siej Qott und diese, Menschen gehören einer-anderen Zeit.an.“

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Von den 657 Kirchen, die 1917 kurz vor Ausbruch der Revolution in Moskau noch existierten, ist ein großer Teil auf Befehl Stalins als ..Wohnstätte des betäubenden Kults“ zerstört oder einer „nützlicheren Verwendung“ zugeführt worden. Nützlicher waren den Kommunisten die Kirchen als Kinos, Klubhäuser, Büros oder auch in Einzelfällen als Fabrikhallen, Autogaragen oder Ställe. Ein Teil der Gotteshäuser blieb aber auch leerstehen, ungenutzt, einem langsamen Verfall preisgegeben.

Dennoch begann. in den sechziger Jahren in der Sowjetunion nach einer Zeit des Vergessens und Zerstörens eine neue Entwicklung. Man erinnerte sich plötzlich wieder der großartigen Gotteshäuser von unschätzbarem Wert und reicher künstlerischer Ausstattung. Auch die offiziellen Stellen brachten den alten Kirchen als unersetzlichen Kulturdenkmälern eine neue Liebe entgegen, eine Art „Nostalgie sowjetischer Prägung“. Eine Bewegung setzte plötzlich ein, die nicht nur im Westen Erstaunen auslöste, sondern auch bei vielen altgedienten Kommunisten. Uberall im Land begann man, die schönsten Kirchen zu renovieren, die prächtigsten Zeugen russischer Baukunst und Ikonenmalerei auch späteren Generationen zu erhalten. Und diese Restaurationswelle hält bis heute an.

Sicher ist, daß das immer noch wachsende Interesse der sowjetischen Öffentlichkeit an den steinernen Zeugen der Geschichte sehr realistische Gründe hat, die nicht allein in der größeren Zahl der Gottesdienstteilnehmer zu suchen ist und erst recht nicht in einer toleranten Einstellung des Regimes gegenüber den religiös engagierten Bürgern des Landes. Die Kulturdenkmäler finden vielmehr den Beifall der von Jahr zu Jahr größer werdenden Zahl von Touristen aus dem Westen, deren Devisen für die Sowjetunion lebenswichtig sind.

Nicht zuletzt aus diesem Grund werden derzeit in Moskau Kirchen,

vorzugsweise in der Nachbarschaft der von Ausländern frequentierten Hotels, renoviert. Dabei muß man den Restauratoren das Kompliment machen, daß sie sehr behutsam vorgehen und — wo beispielsweise Nachbildungen erforderlich sind — sich strikt an die historische Wahrheit halten. Wer die Restauration finanziert, kann jeder Besucher der Kirchen vielsprachig auf einem einfachen Schild nachlesen: „Dieses Gebäude wird von der UdSSR als Kulturdenkmal erhalten.“

Obwohl so viele Moskauer Kirchen verschwunden sind, bilden die verbliebenen immer noch einen unübersehbaren Bestandteil des Stadtbildes. Die vergoldeten und versilberten Kuppeln der Gotteshäuser im Zentrum des russisch-orthodoxen Glaubens, das man einmal das „neue Jerusalem“ genannt hat, leuchten dem Moskau-Besucher schon von weitem entgegen. Großartig der Anblick des Kreml, in dem allein sieben Kathedralen stehen. Jeder der großen Zaren hatte sich hier eine eigene Kirche innerhalb des einstmals für das Volk verbotenen Kremlbezirks errichten lassen. Die prächtigen Gotteshäuser sind alle gut erhalten und begeistern Jahr für Jahr Tausende von Besuchern.

Als 1965 durch einen Artikel in der „Komsomolskaja Prawda“ im Westen bekannt wurde, daß sogar die aus dem 16. Jahrhundert stammende Basilius-Kathedrale auf dem Roten Platz, die „Königin der Moskauer Kirchen“, zehn Jahre vorher auf Geheiß Stalins abgebrochen werden sollte, wirkte das noch nachträglich wie ein Schock auf die Kunstkenner in der ganzen Weit. Retter der Kathedrale soll der bekannte sowjetische Restaurator Pjotr Baranowski gewesen sein. Er soll dem Kirchenhasser Stalin sogar mit Selbstmord gedroht haben, falls der Plan verwirklicht werde.

Stalin hat sich angeblich darüber geärgert, daß die Kathedrale bei großen Paraden auf dem Roten Platz die breiten Marschkolonnen in zwei Hälften teilte und dabei wie ein Fels in der Brandung wirkte. Für aus-

ländische Journalisten war dies immer wieder ein beliebtes Photomotiv. Die Kathedrale wurde deshalb öfters als „Fels Gottes in der Roten Flut“ bezeichnet. Sie gilt heute als Wahrzeichen Moskaus. Wer zum erstenmal vor ihr steht, glaubt, eine Seite in einem alten russischen Märchenbuch zu sehen.

Viele andere Moskauer Kirchen entgingen jedoch nicht Stalins Zorn auf alles Religiöse. So wurde auch die größte und am reichsten ausgeschmückte Kirche Moskaus, die zur Erinnerung an die Vertreibung Napoleons von 1839 bis 1883 erbaute Kathedrale „Christ, der Erlöser“, Anfang der dreißiger Jahre gesprengt, um dem geplanten „Palast der Sowjets“ Platz zu machen. Später mußte man jedoch feststellen, daß der Untergrund für den mächtigen Bau nicht genügend Tragfähigkeit besaß. In der bereits ausgehobenen Baugrube wurde deshalb nach dem letzten Krieg das große beheizte Freischwimmbad errichtet, in dem auch im tiefsten Moskauer Winter im Freien gebadet werden kann.

Wladimir Soljuchin, ein sowjetischer Schriftsteller aus dem Kreis der Systemkritiker, verfaßte kürzlich einen leidenschaftlichen Appell an die Öffentlichkeit, die noch vorhandenen Baudenkmäler des alten Rußland zu erhalten. Dafür sei kein Opfer zu groß. Wörtlich meinte Soljuchin: „Die Erlöser-Kathedrale war zwar kein altes Bauwerk, aber sie f| bildete, zusammen mit dem Kreml, einen charakteristischen architektonischen Brennpunkt der Stadt. Die Zerstörung der Kirche war so sinnlos wie das Leugnen der christlichen Vergangenheit unseres Landes ...“

Solche Mahnungen sowjetischer f§ Intellektueller sind heute nicht mehr selten. Die Verantwortlichen im Kreml können diese mutigen Appelle nicht mehr überhören. So ist auch in Moskau seit über zehn Jahren keine einzige Kirche von kulturhistorischem Wert mehr abgebrochen worden. Im Gegenteil: man ist bemüht, die Spuren blinden Hasses, die die Stalin-Ära an den noch vorhandenen Kirchen hinterlassen hat, so gut es geht, zu verwischen. Die Kunsthistoriker haben also Grund zur Hoffnung. Daß allerdings die Christen in der Sowjetunion, die so standhaft ihren Glauben behauptet haben, auch wenn sie dafür seit vielen Jahren leiden müssen, von der religiösen Nostalgie eine Erleichterung ihrer bedrückenden Situation erwarten dürfen, ist kaum anzunehmen.

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