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Neue Phase eines Kampfes um die Identität

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„Es gibt kein politisches Gebilde in Europa, dessen Existenz so sehr mit den Identitätsproblemen seiner Mitglieder verbunden ist wie Östereich."

Mit diesem Satz beginnt Friedrich Heer seine fast 600 Seiten umfassende Studie „Der Kampf um die österreichische Identität". Dieser Kampf ist noch lange nicht zu Ende, und er ist derzeit in eine neue Phase getreten. Der Zusammenbruch des Kommunismus und die Einigung Europas zwingen zur Selbstreflexion. Da flackert eine Diskussion um den Staatsvertrag auf, da tauchen scheinbar unvermutet Neonazi-Probleme auf, da werden Insignien des Staatswappens in Frage gestellt.

Die Symptome einer Gärung häufen sich, und es besteht die Gefahr, daß österreichisch reagiert wird: durch Verdrängen.

Nur ein Beispiel für die Veränderung, die wir eben erleben: Nach dem Zweiten Weltkrieg war Österreich nur bedingt ein handelndes Subjekt im historischen Prozeß; es war auch Objekt der Politik des Kalten Krieges. Dazu gehörte, daß es einerseits von den Westmächten gegenüber Deutschland gestärkt wurde, und daß es in einer geopoli-tisch wichtigen Lage auch ein Vorposten des Westens im Kampf gegen den kommunistischen Osten zu sein hatte.

Die österreichischen Regierungen der Nachkriegszeit verfolgten eine naheliegende Taktik: Sie versuchten den Westen als Gegengewicht zur Sowjetunion allgemein und besonders wegen der sowjetischen Ansprüche auf Deutsches Eigentum für sich zu gewinnen. Das gelang ihnen in dieser besonderen Phase der Nachkriegszeit auch. Verbunden mit diesem Bemühen war der Grundsatz, die Sowjetunion, trotz dieser eindeutigen Bindung an den Westen, nicht über Gebühr zu reizen.

Der englische Historiker Robert Knight hat in seinen kommentierten Protokollen der österreichischen Bundesregierung über die Entschädigung der Juden („Ich bin dafür, die Sache in die Länge zu ziehen") aber auch darauf hingewiesen, daß die wirtschaftliche Hilfe des Westens für Österreich auch mit einer moralischen Rehabilitierung Hand in Hand ging. Ab 1946 basierte die westliche Politik laut dem US-Diplomaten Martin Herz „auf der Fiktion, daß alle Österreicher unschuldig waren".

Jetzt gibt es die Sowjetunion nicht mehr. Deutschland ist wieder vereinigt und nicht wenige westliche Politiker fürchten, daß dieses Deutschland mit dem neuen alten Rußland enger kooperieren könnte. Und wir müssen in die EG, weil wir in die EG müssen. Das Anschlußverbot soll fallen, fordert Jörg Haider.

Das österreichische Nationalgefühl sei „außerordentlich schwach und unbewußt", konstatierte 1946 der Gesandte Eduard Ludwig.

War die Zeit lang genug, es zu stärken? Oder hat sich sowieso schon eine Variante österreichischer Gleichgültigkeit durchgesetzt, die sich als Selbstbewußtsein tarnt: „Zu was brauch'ma das?"

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