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Neue Sakralmusik

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Das Nordufer des Genfersees ist eine der reizvollsten und fruchtbarsten Musiklandschaften. Ihre Schönheit wurde erst um die Mitte des 18. Jahrhunderts von Rousseau entdeckt, der sie durch seinen Roman „La Nouvelle Heloise“ weltberühmt machte. Seither wird dieses schöne, von einem milden Klima begünstigte Ufer immer wieder von Künstlern, vor allem von Musikern aufgesucht. Viele haben sich in den Orten Montreux, Clärens, Vevey, Lausanne, Morges u. a. auf gehalten oder für längere Zeit niedergelassen. Tschaikowsky wohnte 1877 und 1879 in Clärens. Am längsten hielt sich Strawinsky hier auf und schrieb einige seiner berühmten Frühwerke, die er Diaghilew am Klavier vorspielte. Und Strawinskys bester Interpret, Ernest Ansermet, begann seine Laufbahn als Dirigent des Kurorchesters von Montreux. 1918 begründete er das berühmte Orchestre de la, Suisse Romande in Genf, das er 50 Jahre lang leitete — wohl ein einzigartiger Rekord. In der Villa „L’Empereur“ des Dr. Niehans wohnte Wilhelm Furtwängler, zuletzt in „Le Basset Coulon“ in Clärens, und oberhalb von Vevey, in Blonay, hatte Paul Hindemith sein Haus. Jetzt liegt er auf dem Friedhof von Saint-Lėgier begraben.

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Das Nordufer des Genfersees ist eine der reizvollsten und fruchtbarsten Musiklandschaften. Ihre Schönheit wurde erst um die Mitte des 18. Jahrhunderts von Rousseau entdeckt, der sie durch seinen Roman „La Nouvelle Heloise“ weltberühmt machte. Seither wird dieses schöne, von einem milden Klima begünstigte Ufer immer wieder von Künstlern, vor allem von Musikern aufgesucht. Viele haben sich in den Orten Montreux, Clärens, Vevey, Lausanne, Morges u. a. auf gehalten oder für längere Zeit niedergelassen. Tschaikowsky wohnte 1877 und 1879 in Clärens. Am längsten hielt sich Strawinsky hier auf und schrieb einige seiner berühmten Frühwerke, die er Diaghilew am Klavier vorspielte. Und Strawinskys bester Interpret, Ernest Ansermet, begann seine Laufbahn als Dirigent des Kurorchesters von Montreux. 1918 begründete er das berühmte Orchestre de la, Suisse Romande in Genf, das er 50 Jahre lang leitete — wohl ein einzigartiger Rekord. In der Villa „L’Empereur“ des Dr. Niehans wohnte Wilhelm Furtwängler, zuletzt in „Le Basset Coulon“ in Clärens, und oberhalb von Vevey, in Blonay, hatte Paul Hindemith sein Haus. Jetzt liegt er auf dem Friedhof von Saint-Lėgier begraben.

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Es ist also nicht von ungefähr, daß man in Montreux und in Vevey Musikfeste veranstaltet. Heuer war es der 26. Septembre musical, in dessen Verlauf insgesamt 20 Konzerte stattfanden, die unter dem Motto „In einem Europa ohne Grenzen — Musik ohne Grenzen“ standen. Aus der halben Welt kommen hierher die Ensembles und musizieren im Thea- rersaal des Kasinos, im größeren Pavillon, im Schloß Chillon und in der Kirche St-Martin in Vevey. Den Reigen eröffnete die Warschauer Philharmonie, die unter Witold Ro- wicki und Charles Dutoit Werke von Moniuszko bis Lutoslawski spielte. Beendet wird das Festival durch zwei Konzerte des Yomuri Nippon Symphony Orchestra, Tokio unter Wakasugi limori. , ;

Mit dem Orchestra de la Suisse Romande konzertierte Joseph Krips. Das Programm war romantischer Musik gewidmet und schlug auch entsprechend ein. Die Dritte von Brahms ist in diesen Breiten wenig bekannt, und man merkte es an dem etwas distanzierten, jedoch präzisen und klangschönen Spiel des Orchesters. Schumanns Cellokonzert ist heute kaum noch erträglich, auch wenn ein Meister wie Fournier es spielt. Dahinzielende kritische Stimmen konnte man am Ausgang des Pavillons auch vom Publikum hören. Den „Till Eulenspiegel“ fanden alle recht lustig und „wienerisch“. Krips, eitler der jüngsten Hausbesitzer in Montreux-Territet, wurde sehr gefeiert.

Ein sehr aufmerksames Publikum fanden die auf alten Instrumenten musizierenden Mitglieder des Elisa- bethan Consort of Viöls. Sie spielten eine lange Reihe kleiner Stücke von Dowland, Morley, Farnaby, Brade, Weelkes und Holbom: Königliche Hofmusik aus der Zeit Heinrichs VIII, und Elizabeths I. Wie groß und allgemein die Musikkultur der damaligen Zeit war, hört man aus drei Phantasiestücken, deren Autor Heinrich VIII. ist. Der eigentümlichste und genialste dieser Komponisten ist ohne Zweifel John Dowland mit seinem charakteristischen Trauer- Ton, den weitgeschwungenen melodischen Linien und einer dichten Polyphonie.

Als Meister ihres Faches und des virtuosen Zusammenspiels erwiesen sich die Musiker des Beaux-Arts- Trio, New York, in einem exquisiten Programm. Mozarts Trio, KV 502, Beethovens op. 97 und Ravels exotisches Stück für Violine, Violoncello und Klavier — man war im Zweifel, welchem Werk man die Krone reichen sollte. Den Interpreten gelangen alle drei so verschiedenen Stile aufs beste.

Von den zahlreichen Solisten hörten wir nur noch den jungen Tamas Vasary mit einem reinen Chopin- programm: zwei der großen Sonaten, einem Noctumo und dem berühmten Andante spianato mit anschließender großer Polonaise. Ihm, der ein bemerkenswerter Chopin- spieler ist, und dem Publikum machte freilich die Akustik des großen Pavillons einigermaßen zu schaffen.

Das interessanteste Konzert fand in der vollbesetzten Kirche von St-Martin in Vevey statt und stand unter dem Motto „Das Lob Gottes singen im XX. Jahrhundert“. Es wurde vom Chor und dem Centre de recherches sonores vom Radio de la Suisse Romande und von einem Schlagzeugensemble aus Genf gebildet. Das Sakralkonzert umfaßte fünf Werke, darunter zwei Auftragskompositionen und zwei Erstaufführungen. Jeder der beiden Teile war mit einem bekannteren Werk „abgestützt“: Schönbergs letzter Komposition, dem A-cappella-Chor „De Profundis“, op. 50 b, und dem Stabat Mater aus Pendereckis Lukäspassion.

Heinz Marti, Jahrgang 1934, in Bern geboren und seit zehn Jahren beim Tonhalleorchester in Zürich, schrieb seine Kantate „Qui necd/um natus est“ für einen Flötisten, einen Rezitator, sechs Frauenstimmen, Orgel und Tonband. Den Text stellte er aus Bibelstellen, apokryphen Schriften zum Neuen Testament, aus Yeats und Sigmund Freud zusammen. Das Prinzip einer ununterbrochenen akustischen Rotation ist mit großem Können durchgehalten. Auch versteht er es, eine dichte poetische Atmosphäre zu schaffen und echte religiöse Stimmung zu verbreiten, da die vielfältigen technischen Mittel nie aufdringlich eingesetzt werden.

Der Autor von „Martyrs“ ist Jean Derbes, gebürtiger Franzose, Jahrgang 1937 und in Genf ansässig. Von den fünf Teilen der Messe sind nur der erste und der letzte „auskomponiert“, die mittleren wurden stark kontraktiert, der Stil ist gewissermaßen neoexpressionistisch; das ganze Werk, für Soloquartett, gemischten Chor und Tonband, hat stark experimentellen Charakter.

Andrė Zumbach schließlich, 1931 in Genf geboren und dort am Centre de recherches sonores tätig, ist der Komponist des „Psalms für unsere Zeit“. Er schrieb sein etwa zwanzig Minuten dauerndes Werk für Solostimme, drei Chöre, Schlagwerkensemble und Orgel. Es ist eine Anrufung, Beschwörung, Anklage Gottes auf einen ziemlich wirren Text von Roger Sauty mit allerlei klanglichen und bildungsmäßigen Assoziationen. Aber der Ausklang ist sehr eindrucksvoll, an Honegger und Frank Martin erinnernd. — Bei zwei Werken wirkten auch Tänzer mit: zwei Solisten und ein kleines Corps de Ballet. Die Choreographie von Octavio Cintolesi hat nicht gestört, vermochte freilich auch keine starken eigenen Akzente neben die der expressiven Musik zu setzen. Andrė Charlet hat alle diese schwierigen neuen Werke geleitet. Er und seine Musiker scheinen Erfahrung in der Ausführung solcher Partituren zu haben und beeindruckten durch die Sicherheit ihres Musizierens.

Noch zahlreiche ‘Ensembles ‘ und Solisten wären zu nennen: das iSym- phonieorchester von Basel, das von Igor Markewitsch und Renė Klopfenstein dirigiert wurde, das Kammerorchester von Lausanne, die Organisten Lionel Rogg, Pierre Pidoux und Georges Athanasiades. Aber wir waren nur eine Woche in Montreux. Jedoch lange genug, um einige sehr sympathische Besonderheiten dieses Festivals konstatieren zu können:

Während andernorts, zum Beispiel in Salzburg, alle „Anrainer“ der Spielstätten, vor allem die Hotel- und Gaststättenbetriebe, die Kaufläden und Souvenirgeschäfte, versuchen, soviel wie möglich von dem großen Kuchen für sich herauszubrechen (das Defizit zahlen ja Staat,

Land oder Stadt), helfen hier viele Einzelpersonen mit, den „Semptembre musical“, dessen Geldmittel begrenzt sind, zu unterstützen, ja überhaupt erst möglich zu machen. Da gibt es im schönausgestatteten Programmheft, das Nicole Hirsch., die gute Fee dieses Festivals, gestaltet hat, die Namen von etwa achtzig „amis du Festival“: kleinere und größere Institutionen, Banken, Industrieunternehmen — vor allem aber Namen sehr vieler Privatpersonen, die die Sache dieses Musikfestes zu der ihren gemacht haben. Natürlich sind die „großen" Festwochen und Festspiele von Wien, Salzburg, Berlin, Edinburgh,’ Luzern ul a. von denen Sm Genfersee1 „strukturell“ unterschieden. Aber immerhin: 20 Konzerte innerhalb eines Monats, darunter einige mit großen Ensembles und Gastorchestern (u. a. aus Polen und Japan), zahlreiche ausländische Solisten, die Proben und das Personal — das kostet schön viel Geld. Dieses wird sparsam ausgegeben, denn die Veranstalter kennen die Grenzen der Leistungsfähigkeit ihrer Freunde und Förderer.

Doch das war ein Blick hinter die Kulisse. Sprechen wir nochmals von dieser selbst: Da ist das Nordufer des Genfersees, mit seinem milden Herbst, dem klaren Wasser, das von Jahr zu Jahr nicht immer mehr verschmutzt, sondern reiner wird, dank sinnvoller, allerdings auch kostspieliger Kläranlangen. Mit seiner einzigartigen Uferpromenade, die eine geradezu tropisch wuchernde Flora aufweist. Mit seiner gewaltigen Gebirgskulisse und dem herbstlichen Blau von Wasser und Himmel. Mit den vielen schneeweißen Schwänen am Ufer. Mit seinen schönen, komfortablen Hotels und den vielen kunstliebenden und angenehmen Menschen, denen man dort begegnet …

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