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Neuentdeckte Wolga-Deutsche

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Von Unrecht sprechen die Ostberliner Genossen. Zwar nicht direkt, aber durch das SED- Zentralorgan verraten sie, daß die zwei Millionen Sowjetdeutschen die ersten waren, „die seitens Stalins und seiner Gefolgsleute grundlos Repressalien ausgesetzt“ waren. So das „Neue Deutschland“ vom 13. März. Und kaum zwei Tage später sind die Landsleute in den entfernten Wüstengebieten Kasachstans wieder Gesprächsthema in der Parteizeitung.

Seit der Regentschaft Katharinas II. hätten Deutsche an der

Wolga gesiedelt und nach der Oktoberrevolution habe man das 28.000 Quadratkilometer große Gebiet zur „autonomen Republik der Wolgadeutschen“ erklärt.

Und wörtlich, nicht ohne Stolz: „In den Anfangsjahren des sozialistischen Aufbaus wurden eindrucksvolle Erfolge erzielt, doch nach der Auflösung der Republik im August 1941 wurden viele ihrer Bewohner unter falschen Anschuldigungen zwangsweise umgesiedelt.“ Aber dennoch hätten jene Deutschen ,4m Hinterland Heldenhaftes vollbracht, um die sowjetische Heimat gegen die fa schistischen Okkupanten zu verteidigen“.

Woher auf einmal soviel Patriotismus? Was ist in die Ostberliner Genossen gefahren, daß sie auf einmal so klar Partei ergreifen nach jahrzehntelangem Schweigen und dem noch immer klaren Bekenntnis, Ceausescu sei ein „Freund der DDR“ und alles, was im Westen über Dörferschleifung und Unterdrückung der deutschen und ungarischen Minderheit in Rumänien geschrieben werde, entbehre jeglicher Grundlage?

Weshalb wird mit zweierlei Maß gemessen, wenn das „Neue Deutschland“ über den großen Bruder schreibt: „Die nicht zu Ende geführte öffentliche Rehabilitierung eines ganzen Volkes wirkte sich negativ auf die Befriedigung seiner nationalen Bedürfnisse und Kultur aus.“? Obwohl nur wenige Wochen früher feierlich verkündet wurde: „Die Deutschen in Rumänien haben keinen Grund zu klagen.“

Aiif des Rätsels Lösung muß man vorerst warten. Hat Erich Honecker nur seinen Zeigefinger erhoben, um Michail Gorbatschow zu erklären: Bringe erst einmal Ordnung in dein eigenes Vielvölkerhaus, bevor du andere des Dogmatismus bezichtigst? Oder wollte man sich in Berlin nur einmischen in die Pläne, die Bonn mit Moskau hegt?

Denn in der Tat ist in die „deutsche Frage“ Bewegung geraten. Kanzler Helmut Kohl hat bei seinem Besuch im Kreml im vorigen Jahr erklärt, angesichts von zwei Millionen Sowjetdeutschen könne es nicht Politik der Bundesregierung sein, alle in die Bundesrepublik holen zu wollen. Darauf soll Gorbatschow geantwortet haben, es handle sich hier „ja auch um unsere Deutschen“.

Liegen in dieser Frage die beiderseitigen Interessen gar eng beieinander? Zum einen wächst in Westdeutschland der Unmut gegen die Aus- und Umsiedler aus dem Osten. Zum anderen möchte Moskau nach Möglichkeit den Fleiß und die Initiative der Deutschen für seine Perestrojka nutzen. Wie stand doch im SED-Or- gan zu lesen? „In einem sind sich die Sowjetdeutschen einig: Unsere Heimat ist hier, in der Sowjetunion.“ .

Bonner Emissäre behaupten, sie hätten in Kasachstan, wohin die Hälfte der ehemaligen Wolgadeutschen vertrieben wurde, herausgefunden, daß die Bereitschaft, an den mittleren Lauf der Wolga umzusiedeln, größer sei, als in den Westen zu emigrieren. Insider glauben gar, es gäbe bereits für beide Seiten verlockende Angebote. Da die Mehrzahl der ehemaligen deutschen Dörfer an der Wolga bis heute unbesiedelt blieben, sei eine Rückführung realisierbar.

Zum anderen plant Gorbatschow seit längerem die Errichtung sogenannter „autonomer Wirtschaftszonen“, jenseits des bestehenden Staatsmonopolismus. Die neue „Wolga-Republik“ könnte eine Art Pilotprojekt werden, wofür man die westdeutsche Wirtschaft zu besonderen Investitionen gewinnen könnte.

Zukunftsmusik? Auf allen Seiten wird über Erstaunliches geredet. Folgen dem bald Taten?

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