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Neuer „blutiger Sonntag

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Die Kurzschlußhandlung eines Mitgliedes der Ulster-Polizei (RVC ss Royal Ulster Con-stabulary) am zweiten Sonntag des August hat einen neuen Toten gefordert und der katholischen Terrororganisation IRA, damit ihrem politischen Flügel wie Helfern im Ausland den sichtlich provozierten Propagandaerfolg beschert. Eine Lösung von Londons ältestem und in der Gegenwart besonders tragisch spürbarem Kolonialproblem ist weiter denn je entfernt und auch das, was

gemeiniglich in dem dehnbaren Ausdruck „Fortschritt" gefaßt ist, erneut verbaut.

Nordirlandminister James Prior übernahm rasch die volle Verantwortung für den Zwischenfall, der in der von Gewalt geprägten Geschichte der Provinz keineswegs vereinzelt dasteht. Eine Kette von unglücklichen Entscheidungen und falschen Einschätzungen hat zu einem neuen „blutigen Sonntag" geführt. Erstmals wurde der 30. Jänner 1972 so genannt, als die britische Armee in Derry (Londonderry) das Feuer auf unbewaffnete Demonstranten eröffnete; 14 Tote blieben auf der Wallstatt liegen.

Diesem Blutbad vor zwölf Jahren folgte die Welle des Terrors von IRA (Irische Republikanische Armee) und INLA (Irische Nationale Befreiungsarmee), die bis heute nicht abgeklungen ist.

Nach Prior war es ein Fehler,

dem Propagandachef der US-amerikanischen Organisation Noraid, Martin Galvin, das Betreten des Königreiches zu verbieten. Galvin ist irischer Staatsbürger und sein Ausschluß fördert in Ubersee die Sympathien für die republikanische Sache der Grünen Insel.

Die Kundgebung vor dem Hauptquartier von Sinn Fein, politischer Arm der IRA, wirkte wie eine Falle, in die London auch programmgemäß tappte. Die Ulster-Polizei, fast ausschließlich aus Protestanten gebildet, rückte an, um Galvin zu verhaften. Dieser verschwand rechtzeitig von der Bildfläche, doch der Aufruhr - von Millionen US-amerikanischen Bürgern auf dem Bildschirm verfolgt — war nicht mehr aufzuhalten. Verständlich, daß sich in dieser gespannten Situation der Finger am Drücker schneller spannt.

Die Plastikkugeln wurden als „nicht tödliche" Abschreckungswaffe eingeführt, allein der Tote Sean Downes ist schon das 15. Opfer dieses „ungefährlicheren" Ge-schoßes, am blutigen Sonntag in Verletzung der internen Regeln abgeschossen: zu nahe, ohne offensichtliche persönliche Gefährdung und gezielt in die Herzgegend. Noraid konnte sich keine bessere Propaganda für die irische Front erwarten.

Nordirlandminister Prior, der selbst im Laufe des Hungerstreiks durch IRA-Mitglieder im Maze-Gefängnis nach Belfast übersiedelt war, übergibt seinem Nachfolger nächsten Monat ein schweres Amt. Die konfessionelle Grenze steht fest wie die Berliner Mauer. London wird wie in der Vergangenheit mit neuen Initiativen kommen — aber, wie gehabt, das Interesse schnell verlieren.

Was ist etwa aus der nordirischen Versammlung geworden, Priors persönliche Schöpfung? Die offiziellen Unionisten blieben als Folge einer Debatte in der protestantischen Gemeinschaft weg, desgleichen die katholische Labourpartei (SDLP). Wie sollte unter diesen Absenzen der Zweck erfüllt werden, der da ist: Machtteilung? Oder Uberzeugung der katholischen Minderheit, daß die zerrüttete Provinz auch ihnen gehört?

Die Ergebnisse des Forums vom vergangenen Mai, Initiative der Nationalisten südlich und nördlich der Grenze, sind in so kurzer Zeit nahezu vergessen. Dafür gewinnt Sinn Fein mehr und mehr gegenüber der einzigen regulären katholischen Partei.

Die Chance eines guten Einvernehmens von London mit Dublin ist bisher auch nicht wahrgenommen worden. Die Ermordung von Sean Downes hat den irischen

Premier Fitzgerald in Schwierigkeiten gebracht, die große Opposition Fianna Fail drängt auf eine offene Verurteilung des Mordes. Dies aber wäre für eine gedeihliche Kooperation der Nachbarländer nur hinderlich.

Grenzsicherheit und gemeinsame wirtschaftliche Interessen stehen im Vordergrund. Dublin hat einen Bundesgenossen in der britischen Labourpartei gefunden, die überwiegend einem Vereinigten Irland zuneigt. Dieser Plan jedoch entbehrt jeder realen Grundlage, solange die Mehrheit Ulsters für einen Verbleib unter britischer Souveränität stimmt und jeder Uberbrückung der ideologischen und religiösen Gegensätze vehement widersteht.

Märtyrer, wie sie am vorletzten Sonntag von der Ordnungsmacht geschaffen wurden, sind angetan, neuen Terror der Gegenseite zu entzünden. Und London ist die-sesmal nicht schuldlos.

Der ehemalige Nordirlandminister von Labour, Mervyn Rees, sagt voraus, daß der zweite „blutige Sonntag" die Entwicklung auf eine Lösung um zehn Jahre zurückwirft. Konservative in Whitehall halten diese Äußerung für allzu pessimistisch. Doch in den Erwartungen einer besseren Zukunft für die Provinz sind auch sie äußerst bescheiden.

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