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Neues Antlitz Europas

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Das Interesse an einem Erstar- ken Europas vis-ä-vis den beiden bisherigen politischen Supermäch- ten war in der letzten Zeit nicht nur aus österreichischer Sicht und Er- fahrung wiederholt zu hören. Die- ses Interesse scheint mir außerhalb und östlich von Österreich stärker und lebendiger zu sein als in Öster- reich oder Westeuropa selbst. Gor- batschow gab einige Male offen zu verstehen, daß er Europa als eine Art gemeinsamen Hauses auch für sein Land akzeptiere.

Damit stellt sich aber sofort die Frage, was für ein Europa ist damit gemeint: Ist es das Europa, das ein- mal war, oder ein neues Europa, das mit der Vergangenheit nicht mehr identisch ist, wie es im heuti- gen Mitteleuropa der Fall ist?

In der sogenannten Nachkriegs- zeit hat man das westliche Gebilde der NATO, der Europäischen Gemeinschaft, schlicht und einfach als Europa bezeichnet; der östliche Teil des alten Europa, die kommu- nistische Staatengemeinschaft des COMECON, mit dem Warschauer Pakt, war de facto aus dem Begriff eines Europa der Nachkriegszeit ausgeschieden.

Der französische Staatspräsident de Gaulle hat allerdings in den sechziger Jahren, im Gegensatz dazu, einige Male nachdrücklich darauf hingewiesen, daß für ihn auch heute Europa vom Atlantik bis zum Ural reiche.

Die Frage, um welches Europa es heute geht, ist nicht leicht zu be- antworten. Ich habe heute den Eindruck, daß gerade der sogenann- te Ostblock mehr von der alten Europaidee bewahrt, als der west- liche NATO-Bereich.

Die im Umbruch befindliche Staatengemeinschaft im östlichen Europa verlangt nach einer größe- ren geistigen Orientierung und einen über die nationalen Grenzen hinausreichenden größeren Zusam- menhang auf der Grundlage eines christlichen Menschenbildes von Würde, Freiheit und Gleichheit des Menschen in einer neuen Welt.

Die frühere geistige Einheit Eu- ropas ist also nicht endgültig verlo- rengegangen. Es gibt noch immer ein europäisches Bewußtsein, das aus der Vergangenheit in die Zu- kunft weist.

Ein Blick auf die Geschichte zeigt, wie in der geistigen Kraft Europas das Christentum die romanischen, germanischen, slawischen und grie- chischen Völkerschaften bis zum Iran zu einer geistigen Staatenfa- milie zusammenwachsen ließ. Im Westen war mit den Kirchen und Klöstern das Latein ein Ausdruck dieser Gemeinschaft als Fortset- zung des untergegangenen römi- schen Großreiches. Das Christen- tum verband sich erfolgreich mit dem Selbstbewußtsein der verschie- denen Kulturen und Sprachen im europäischen Raum. Die Botschaft vom Reiche Gottes wirkte auf dem Grund nationaler Stammeskultu- ren und Sprachen wie ein Sauer- teig, den man unter das Mehl mischt und der alles durchsäuert. Daraus wuchs im Laufe der Zeit die Vor- stellung von nicht anpaßbaren Men- schenrechten, von Freiheit und per- sönlicher Verantwortung.

Wieweit ist die prägende Kraft des Christentums im heutigen Eu- ropa noch lebendig; wieweit hat es das Antlitz unseres Kontinents wirklich dauernd geprägt?

Das Ende des letzten Krieges hat - so scheint es - das geistige Antlitz Europas ausgelöscht und seine geo- graphische Masse aufgeteilt in zwei Blöcke. So betrachtet ist jenes Europa, das durch vier Jahrhun- derte im Namen der Welt gespro- chen hat, zum Schweigen verurteilt und zweifelt an sich selbst.

Churchill wollte in dieser Situa- tion in zwei großen Reden des Jah- res 1946 die westliche Welt auf rüt- teln und die Regierungen des west- lichen Europa von der Notwendig- keit überzeugen, daß ein Aufbau der Vereinigten Staaten von Euro- pa ein Gebot der Stunde sei.

Dann kam aber der französische Außenminister Robert Schuman, der nach dem Krieg den Glauben an das Europa der Vergangenheit auf eine neue Basis zu stellen ver- suchte. Schuman wollte dem alten Europa eine neue Idee geben. 1950 beschloß die französische Regierung den Staaten Europas eine neue po- litische Konzeption vorzuschlagen; die deutsch-französische Aussöh- nung war dafür die Voraussetzung.

In der Folgezeit waren es die europäischen Bischofskonferenzen (1977 und 1980), die den europäi- schen Gedanken, die Idee einer eu- ropäischen geistigen Zusammenar- beit neu aufgriffen und bewußt ma- chen wollten.

Die Absolutsetzung eines Wissen- schaftsglaubens im Westen ist zer- brochen. Der auf dem Wissen- schaftsglauben beruhende Staats- atheismus im Osten hat nicht zu einer Befreiung, sondern zu einer Art von Versklavung des Menschen geführt und damit eine neue Ab- hängigkeit geschaffen. Die These „Gott ist tot" mit der Hoffnung auf ein neues Zeitalter allgemeinen Wohlstandes ist sowohl im Osten wie im Westen einer großen Leere und Ruhelosigkeit in Europa gewi- chen. Das Suchen nach geistigen Werten hat gerade im besseren Teil der Jugend Europas eingesetzt.

Europa ist vom Christentum aus der Taufe gehoben worden und die europäischen Nationen sind bei all ihrer Verschiedenheit dadurch gei- stig verbunden geblieben.

• Es ist auffallend, wieviel im Ost- en und wie wenig im Westen vom größeren Europa die Rede ist, von einem Europa der gemeinsamen- Vergangenheit. Der Grund hiefür dürfte sein, daß viele nur an das heutige Westeuropa denken mit seinem demokratischen Ordnungs- gefüge, mit seiner Marktwirtschaft, noch immer inspiriert durch wis- senschaftlich-technischen Fort- schritt. Damit verbunden ist aller- dings eine Rechtsordnung, welche die Grundrechte und Freiheitsrech- te des einzelnen schützt.

• Für andere ist jenes Europa noch immer lebendig, das für einen Staatsmann wie de Gaulle vom Atlantik bis zum Ural reicht. Die- ses Europa ist vor allem gewachsen durch die Einheit stiftende Kraft des Christentums mit seinem Men- schenbild.

• Die tiefen Narben des Eisernen Vorhangs und der ideologische, der gesellschaftliche und wirtschaftli- che Zusammenbruch des Kommu- nismus haben mit großer Deutlich- keitgezeigt: Politik, die politischen Führungskräfte in einem jeden Gemeinwesen, können nur die äußeren Bedingungen schaffen für ein sinnerfüllte Leben des einzel- nen. Wenn diese Kräfte und ihre Ideologien ein solches glück- und sinnerfülltes Leben für jeden ein- zelnen vermitteln wollen, so laufen sie nicht nur Gefahr, sondern sehen sich genötigt, ein totales Regime zu errichten ohne Freiheit des Wortes und ohne Persönlichkeitsrechte.

• Die Europaidee mit ihrem ge- schichtlichen Hintergrund kann nur eine Inspirationsquelle sein, um eine mitteleuropäische und gesamt- europäische Zusammenarbeit zu- kunftsträchtig aufzubauen. Als Österreicher möchte ich auf die mit- teleuropäische Gruppierung hin- weisen, welche ein besonders wich- tiger Baustein im gesamten Europa sein wird.

Auszug aus der Rede des Wiener Alt-Erzbi- schofs bei der Tagung der Medien-Bischöfe Europas in Lissabon am 22.März 1990.

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