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Neues Bild vom Krisen-Deutschen?

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Die verlorenen Wahlen in Hamburg, zunehmende Spannungen in der SPD, die von den JUSOS immer wieder angeheizt werden, Sorgen mit dem Koalitionspartner FDP: all das plagt Bundeskanzler Willy Brandt in zunehmendem Maße. Nur aus diesem Klima heraus lassen sich auch sogar Resignationsgerüchte des Bundesknzlers erklären.Tatsache aber ist, daß dies alles nicht die eigentliche zentrale SPD-Krisenstimmung erzeugt — es ist vielmehr die Wirtschaftslage (beängstigend in der deutschen Automobilindustrie) und die Tatsache der Entfremdung zwischen Gewerkschaftern und SPD.

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Die verlorenen Wahlen in Hamburg, zunehmende Spannungen in der SPD, die von den JUSOS immer wieder angeheizt werden, Sorgen mit dem Koalitionspartner FDP: all das plagt Bundeskanzler Willy Brandt in zunehmendem Maße. Nur aus diesem Klima heraus lassen sich auch sogar Resignationsgerüchte des Bundesknzlers erklären.Tatsache aber ist, daß dies alles nicht die eigentliche zentrale SPD-Krisenstimmung erzeugt — es ist vielmehr die Wirtschaftslage (beängstigend in der deutschen Automobilindustrie) und die Tatsache der Entfremdung zwischen Gewerkschaftern und SPD.

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Es ist die Krise eines Staates und einer Gesellschaft, die mit dem plötzlichen Aufkommen wirtschaftlicher Schwierigkeiten — Ölkrise, Inflation — nicht zu Rande kommt. Es ist aber auch die Krise eines Staates, der den Machtwechsel von einer konservativen zu einer sozial-liberalen Regierung nicht voll verkraftet hat und sich nun, parallel zur Stagnation im außenpolitischen Bereich, vor soziale und wirtschaftliche Schwierigkeiten gestellt sieht, deren Entstehen die Regierung ignoriert und geleugnet hat.

Der Sachverhalt, der die bundesdeutsche Krise ausgelöst hat, sieht zunächst sehr einfach aus. Wie jedes Jahr präsentierte die Gewerkschaft des öffentlichen Dienstes, ÖTV, ihr Verlangen nach Lohnerhöhungen und trat mit den Arbeitgebern des Bundes, der Länder und der Kommunen in entsprechende Verhandlungen ein. Damit aber hatte in diesem Jahr die Ähnlichkeit mit früheren Lohnrunden ihr Emde.

Anders als sonst war der öffentliche Dienst nicht der Nachzügler bei den Lohnverhandlungen. Sonst hatten immer bereits die Metallarbeiter und andere führende Gruppen, wie Chemie oder Druck' und Papier, ihre Tarifabschlüsse hinter sich, wenn sich der wuchtige ÖTV-Chef Kluncker mit dem Bundesinnen-mmister und den anderen Vertretern der öffentlichen Arbeitgeber an den Verhandlungstisch setzte. In diesem Jahr aber marschierte Kluncker voran.

Als Kluncker seine Forderung nach 15 Prozent mehr Lohn und einer Mindestlohnerhöhung von 4G0 D-Mark auf den Tisch legte, war das Erstaunen und teilweise das Entsetzen nicht nur auf der Regierungsseite, sondern auch bei den privaten Arbeitgebern nicht unbeträchtlich.

Damit war die magische Zehn-Prozent-Grenze ins Blickfeld geraten, die nicht nur der runden Zahl wegen Aufmerksamkeit verlangte, sondern deshalb, weil sie automatisch Verbindungen zur inflationären Entwicklung herstellte, insofern sich der Geldwertverlust ebenfalls zielsicher auf diese Grenze zubewegt. Die Bundesregierung machte daher auch gleich die Rechnung auf, daß jede Lohnerhöhung über zehn Prozent eine gleichhohe Steigerung der Inflationsrate bedeuten würde.

Wenn auch diese Rechnung nicht sehr abgesichert war und in ihrer Einfachheit nicht nur den Gewerkschaftern als Milchmädchenrechnung erschien, so war doch von Regierungsseite klar der Zusammenhang zwischen Lohnerhöhungen uod Preissteigerungen angesprochen worden. Damit war an den Kern der gesamten durch die Tarifver-handlungen ausgelösten Krise gerührt, nämlich an das Verhältnis von Gruppeniinteressen und Gemeinwohl.

Vordergründig zeigten sich die Gewerkschaftsführer ihrer Verantwortung für die Allgemeinheit bewußt. Als sie schließlich infolge der unnachgiebigen Haltung der öffentlichen Arbeitgeber den Streik organisierten, betonten sie, daß der Bürger nicht in Mitleidenschaft gezogen werden solle und daß auf massive Maßnahmen, wie Stromabschaltung oder totalle Lahmlegung des öffentlichen Verkehrs, verzichtet werde. Eine solche Haltung wurde freilich auch noch dadurch erleichtert, daß sich die ÖTV einen bundesweiten Streik finanziell gar nicht leisten konnte und schon die sogenannten Schwerpunktstreiks die Gewerkschaftskasse erheblich belasteten. Allgemein stand aber hinter einer solchen Entscheidung die Einsicht, daß man englische Zustände nicht heraufbeschwören Bolle.

Während die Gewerkschaften die Mitbürger beim Streik scheinbar schonten, bescherten sie ihnen doch zugleich als Folge des Streiks höhere Gebühren für die öffentlichen Dienstleistungen. Gelder, welche die Allgemeinheit für Investitionen dringend benötigt hätte, werden, dies ist ein Ergebnis des schließlich zustande gekommenen Tarifabschlusses von elf Prozent Erhöhung und einem Miindestfbetrag von 170 D-Mark, von Personalkosten verschlungen werden.

Wenn die Bonner Regierung auch in dem Konflikt keine einheitliche Haltung einnahm, so ist doch über das Ergebnis der Lohnverhandlungen im öffentlichen Dienst niemand im Kabinett glücklich. Der Regier rungschef selbst ist sogar so tief getroffen, daß er den Rücktritt zwar nicht unbedingt erwog, aber doch mit ihm drohte. Erschütternd für Brandt war dabei vor allem, daß es die Gewerkschaften sind, die sich anschik-ken, die ohnedies durch die Energie-und Rohstoffkriise bedrohte Volkswirtschaft durcheinanderzubringen. Jene Gewerkschaften, denen er sich als Sozialdemokrat verbunden fühlt und die die Arbeitnehmer vertreten, für die auch die Regierung Brandt eintreten will. Diese Gewerkschaften hatten die Mahnungen Brandts, nicht die Zehn-Prozent-Grenze zu übersteigen, mißachtet: ÖTV-Chef Kluncker hat nie Kontakt zu Brandt aufgenommen.

Es wäre allerdings zu einfach, in dem Nachgeben der Regierung gegenüber der auf den Streik gestützten Gewerkschaft ein persönliches Führungsproblem des Bundeskanzlers zu sehen. Vielmehr hat die gesamte Politik der Bundesregierung bereits seit längerer Zeit das jetzige Debakel heraufbeschworen. Wirtschaftliche Schwierigkeiten waren beschönigt worden. Die Meinung, daß jetzt die Zeit für ein kräftiges Zulangen der Arbeitnehmer gekommen sei, war von den Sozialdemokraten kräftig gefördert worden. Selbst in den heftigsten Phasen der Auseinandersetzungen im Lohnkampf wurde mie erklärt, daß auch eine Verschlechterung der Lebensbedingungen angesichts der drohenden wirtschaftlichen Stagnation eintreten könne.

Auoh ist die Steuerpolitik der Regierung wenig dazu geeignet, die Lohnempfänger zu mäßigen. Durch die Inflation nimmt die Zahl der Arbeitnehmer, die von der Steuerprogression massiv betroffen werden, rapide zu. Der Staat verzeichnet laufend erhebliche Steigerungen aus der Lohn- und Einkommensteuer. So muß in der Bevölkerung, vor allem aber bei den Arbeitern und Angestellten des öffentlichen Dienstes, der Eindruck entstehen, der Staat schwimme in Geld und dieses könne man ihm ruhigen Gewissens wieder abnehmen.

Freilich ist es schon einige Zeit so, daß die Steuereinnahmen wie auch die steigenden Löhne von der Inflation geprägt Sind. Finanzminister Helmut Schmidt hatte daher auch mahnend bei den Tarifauseinander-setzungen darauf hingewiesen, daß nur verteilt werden könne, was vorhanden sei. Nicht erwirtschaftetes Geld bedeutet Geldentwertung. Auch die Gewerkschaften messen jetzt langsam diese bittere Lehre zur Kenntnis nehmen. Nicht nur, daß ein beträchtlicher Teil der Lohnerhöhungen von der Steuer wieder aufgefressen wind, es vermehren sich auch die Stimmen, die eine über die normale steuerliche Belastung hinausgehende Geldabschöpfung durch einen Konjunkturzuschlag oder sogar durch eine Steuererhöhung vorschlagen. Das durch den Streik mühsam Errungene droht nun erst recht wieder dem Staat zum Opfer zu fallen.

Dabei wird die Bonner Regierung in der Frage der die Inflation bekämpfenden Kaufkraftabschöpfung auch davon abgehen müssen, zu viele soziale Rücksichten zu üben. Der bis Mitte des Jahres geltende Stabild-tätszuschlag erstreckt sich nur auf die oberen Einkommensschichten. Dies wtirtet zwar sehr sozial, bleibt aber doch auf einen relativ kleinen Personenkreis beschränkt. Soll auf breiter Basis Kaufkraft abgeschöpft werden, so müßten auch die Empfänger kleinerer und mittlerer Einkommen zur Kasse gebeten werden.

Dieser über kurz oder lang notwendige Schritt wird der SPD nicht leichtfallen, da gerade sie immer die Vorstellung gefördert hat, durch starke Belastung der oberen Einkommen allein könnten wirtschaftliche Schwierigkeiten behoben und soziale Ungerechtigkeiten gelöst werden.

Während in der Steuerpolitik angesichts der Inflationsgefahr die sozialen Rücksichten der SPD/FDP-Regierung schwinden, hat sie bei den Lohnabschiüssen 4m öffentlichen Dienst noch einmal kräftig sozialen Ausgleich praktiziert. Der umstrittene „Sockelbetrag“ feierte mit der stattlichen Höhe von 170 D-Mark nach kurzer Ruhezeit ein prächtiges Comeback. Die Idee, eine Mindestlohnerhöhung festzusetzen, erfreut sich zwar in den unteren Lohngruppen, die gerade beim Streik — Musterbeispiel: Müllwerker — sehr aktiv und gefährlich sind, großer Beliebtheit. Ein solcher Sockelbetrag bedeutet jedoch eine ständige Nivellierung der Gehälter.

Die • Empfänger niedriger Einkommen konnten Lohnerhöhungen bis zu 18 Prozent verbuchen, während die Empfänger höherer Einkommen, ohnedies durch die Steuerprogression stark belastet, nur 11 Prozent bekamen. Dem auch von der SPD gerne bemühten und als unaufgebbar beschworenen Leistungsprinzip entsprechen solche Maßnahmen nicht. In der Metallindustrie etwa haben die Arbeiter selbst bereits dafür gesorgt, daß die Idee des Sockelbetrags begraben wurde: Facharbeiter hatten sich geweigert, schlechter abzuschneiden als einfache Hilfsarbeiter.

Ist in der Regelung der Mindestlohnerhöhung, die von der FDP nicht gerne akzeptiert wurde, schon ein wenig von der Problematik zu erkennen, die sich aus der Arbeitgeberrolle einer sozialdemokratischen Regierung ergibt, so macht dies vor allem die Stellung der Kommunen noch deutlicher. Hier sind viele Stadt- und Gemeinderäte Männer der Gewerkschaft, die sich bei einem solchen Lohnkonflikt zwischen ihren öffentlichen und ihren Gewerkschaftsfunktionen hin- und hergerissen sehen, wobei die Entscheidung meist zugunsten der Gewerkschaften ausfällt. Sozialdemokratische Bürgermeister waren die ersten, die sich mit den hohen Tarifabschlüssen einverstanden erklärten und teilweise noch höhere Summen nannten. Hier wurde die Gefahr deutlich, daß Vertreter der Gewerkschaften in öffentlichen Funktionen ihre Aufgabe in der Verteilung von Mitteln an ihre Sympathisanten sehen, wobei ihr sozialpolitischer Impuls unbestritten sei, ihre gemeinwirtschaftliche Einsicht aber bezweifelt werden kann.

Nachdem der erste Schreck über den Streik der Straßenbahner und Müllwerker verflogen war und nun alles auf die Einigung in der Metallindustrie wartete, begannen Politiker wie auch Arbeitnehmer Bilanz zu ziehen. Sieht man von den bereits erwähnten Folgen ab, so hat sich zunächst für die SPD ergeben, daß sie angesichts wirtschaftlicher Belastung die Handlungsfähigkeit verliert. Dies zeigt sich vordergründig in dem Nachgeben gegenüber den zuerst als eindeutig zu hoch angegebenen Gewerkschaftsforderungen. Dies zeigt sich aber auch darin, daß es bislang nicht gelungen ist, einen Ausgleich zwischen den wirtschaftlichen Realitäten und den politischen Zielvorstellungen zu finden.

Eine Reformpolitik, die auf Wirtschaftswachstum angelegt war, droht nun zu scheitern. Noch aber gibt die Regierung vor, Verbesserungen an die Bevölkerung weitergeben zu können, ohne zu wissen, wo die Grundlagen dafür hergenommen werden sollen. Der Versuch, massiv sozialreformerische Politik zu betreiben und gleichzeitig eine Wirtschaftskrise mit konventionellen Mitteln zu meistern, steht vor dem Scheitern. Der Ex-Juso-Vorsitzende Wolfgang Roth hat kürzlich gerade in diese wirtschaftspolitische Wunde der SPD den Finger gelegt und seiner Partei vorgeworfen, mit den Mitteln des abgehalfterten Super-ministers Schaler ihre soziale Reformpolitik betreiben zu wollen.

Die jüngste Krise der Bundesrepublik hat aber nicht nur diese Schwierigkeiten einer sozialdemokratischen Regierungspartei aufgezeigt, sondern auch die Problematik der zunehmenden Dominanz des Staates auf dem Dienstleistungssektor. Schlagartig wurde angesichts der Streikdrohung und der teilweise praktizierten Arbeitsniederlegung bewußt, wie groß die Abhängigkeit von den öffentlichen Diensten geworden ist. Der v i el ges chmähte Individual verkehr half, die Streiks zu ertragen. Auch manchem Befürworter des Ausbaus kommunaler Einrichtungen sind nun Bedenken an dieser Entwicklung gekommen.

Bei den Gewerkschaften schließlich sollten die Folgen der massiven Lohnerhöhungen, nämlich drohende Wagsteuerung des vermeintlichen Gewinns und Gefährdung durch steigende Preise, Überlegungen auslösen, ob sie sich rein als Vertreter von Gruppeninteressen verstehen wollen oder ob sie der in der Bundesrepublik schon zur Tradition gewordenen staatspolitisch verantwortlichen Haltung weiter verpflichtet sind. Schon melden sich vermehrt Stimmen, die hier zur Einsicht auffordern. Freilich dürfen eine Regierung und ein Parlament kaum von den Gewerkschaften Mäßigung verlangen, wenn sie selbst nicht zur Zurückhaltung bereit sind. Die Volksvertreter im Bonner Bundeshaus reihen in jüngster Zeit dabei ein schlechtes Beispiel an das andere. Nicht nur wird gerade jetzt eine Erhöbung der staatlichen Förderung der Parteien erwogen. Es liegen auch Pläne für eine rund 25prozentige Binkommensverbesiserunig der Bundestagsabgeordneten auf dem Tisch. Dabei sind die Bonner Abgeordneten ohnedies bereits Nutznießer des hohen Tarifabschlusses, den sie jetzt teilweise 'bedauern, weil ihre Bezüge an die Erhöhungen im öffentlichen Dienst gekoppelt sind.

Dies alles aber vollzieht sich vor dem Hintergrund einer steigenden Geldentwertung, einer Zunahme von Konkursen, Schwierigkeiten in bundesdeutschen Schlüsselindustrien, wie der Autoproduktion, sowie gestiegenen Arbeitslosenzahlen. Für Maßhalten, seit Ludwig Erhard ohnedies in Mißkredit gebracht und als Eingeständnis politischer Hilflosigkeit gewertet, reichen diese Krisenerscheinungen jedoch nicht oder noch nicht aus. Bei Politikern und Bevölkerung besteht vorerst das Gefühl, noch einmal kräftig zulangen zu müssen, wobei die Inflation den zu verteilenden Kuchen größer erscheinen läßt, als er tatsächlich ist.

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