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Neues Modell: Letzte Chance

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Nach der Verhängung des Ausnahmezustands („Kriegsrechts“) in Polen und der damit verbundenen völligen Militarisierung der Gesellschaft stellt sich erneut und in fast tragischer Weise die Frage, ob der despotische Sozialismus in Osteuropa reformiert, verändert, vermenschlicht werden kann.

Oder ist es so, daß — wie in der Natur - dem Tauwetter irgendwann einmal wieder der Frost folgt, dem Sommer der Winter, der Hitze die Kälte?

Mit dem Wort „Tauwetter“, das sich seit dem 1956 erschienenen Roman des Sowjetrussen Ilja Ehrenburg als politischer Begriff für eine Ubergangsphase der Locke-

rung diktatorischer Herrschaft und einer Milderung des repressiven Druckes eingebürgert hat, sind in den vergangenen eineinhalb Jahren die Ereignisse in Polen von Realisten beschrieben worden.

Optimisten freilich bezeichneten die fiebernden, stürmischen und umwälzenden Vorgänge im Land an der Weichsel seit dem August 1980 als eine gesellschaftliche „Revolution“, die unumkehrbar sei und deren Folgen Polen niemals mehr zu dem machen würde, was es vor Danzig war.

Haben die Realisten oder die Optimisten Recht behalten? Sind wir Zeuge dessen, was in Osteuropa 1953 in Ostberlin, 1956 in Polen und Ungarn, 1968 in der CSSR passierte — nämlich der jähen Vereisung politischen Hoffnungsgrüns und eines gesellschaftlichen Temperatursturzes?

Das 1980 in Polen begonnene Tauwetter unterschied sich von allen bisherigen im kommunistischen Machtbereich dadurch, daß seine Helden und Teilnehmer bewußt danach strebten, eigene, von der Macht anerkannte und legalisierte Institutionen zu schaffen.

Dieser tatsächlich wesentliche Unterschied ist mm nicht mehr gegeben. Die Instutionalisierung einer politischen Gegenkraft, wie es die unabhängige Gewerkschaft „Solidarität“ mit ihren zehn Millionen Mitgliedern war, ist durch däs Kriegsrecht zumindest vorübergehend außer Kraft gesetzt.

Damit ist aber auch die wesentliche Verbesserung des politischen Systems (die wirtschaftliche Seite bleibt ausgeklammert) nicht mehr gegeben, die durch die Entstehung der „Solidarität“ entstanden war—nämlich, die künstlich aufrechterhaltene Illusion von der Einheit und Konfliktlosigkeit einer sozialistischen Gesellschaft durch ein neues Modell institutionalisierter Konfliktregelung zu ersetzen.

Daß diese Chance verspielt wurde, ist einer Verkettung tragischer Umstände zuzuschreiben, wobei sich jede Seite ein gerüttelt

Maß an Schuld zumessen lassen muß.

• Die Gewerkschaft „Solidarität“ konnte — dem inneren Gesetz einer freiheitlichen und demokratischen Organisation gehorchend - nicht jene Einigkeit und Disziplin in ihren Reihen formen, die sie als Partner vertrauenswürdig und verläßlich gemacht hätte. Sie verlor das realpolitische Augenmaß und trennte sich von jenen, vornehmlich katholischen Beratern, die eine klare und erfolgversprechende Strategie entwickelt hatten.

Stattdessen setzte sich die strategische Konzeption jener Leute in und außerhalb der Gewerkschaft durch, die meinten, nur durch ständigen Druck auf die herrschende Macht sei diese auch zum Nachgeben und zu Veränderungen bereit.

• Die Kommunistische Partei wiederum, ebenfalls kein monolithischer Block, war aber in einem Teil ihrer Strategie einheitlich und konsequent — nämlich in dem Versuch, die Gewerkschaftsbewegung und den gesellschaftlichen Massenprotest zu spalten.

Sie war damit kein vertrauenswürdiger und verläßlicher Partner der gesellschaftlichen Gegenkraft der Gewerkschaft, setzte die üblen Tricks aus der Rüstkammer einer politisch diskreditierten Vergangenheit ein und orientierte sich damit ebenfalls in ihrer Strategie um—von der Politik des Dialogs und der Überzeugung auf jene der Konfrontation und bajonettgestützten Machtbewahrung um beinahe jeden Preis hin.

Diese beiden Fehlhaltungen von Partei und Gewerkschaft sind zum Teü „hausgemacht“ gewesen, wurden zum Teil aber auch objektiv und von außen bestimmt: zum einen durch eine fehlende wirtschaftliche Basis, die politischen Reformen erst die Entwicklungsmöglichkeit gibt, zum anderen durch die gegebenen real- und geopolitischen Zwänge, wie etwa die unabdingbare Einbindung Polens in das osteuropäische Glacis der Sowjetunion.

Zurückkehrend zur eingangs gestellten Frage, ob nämlich der polnische Sommer nun in einem frostklirrenden politischen Winter endet oder ob sich doch etwas Bleibendes gestaltet hat, muß man wohl so antworten: Sicherlich ist eine große Chance verspielt worden, sie ist unrettbar im Schoß der Geschichte versunken.

Aber eine andere Chance haben Partei, gesellschaftliche Gegenkräfte (und die Kirche) in Polen noch vor sich: Nach einem neuen, und anderen Modell nationaler Verständigung und gesellschaftlicher Konfliktregelung zu suchen und dabei die Fehler des jetzt zu Ende gegangenen Tauwetters zu vermeiden, indem man aus ihnen lernt

Das wird viel Kompromißbereitschaft und Emotionslosigkeit von allen verlangen.

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