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Neues Verständnis statt neuer Pädagogik

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Die „Pädagogische Werktagung" war noch nie ein Tummelplatz für Bildungsrevolutionäre. Gerade die heurige Veranstaltung, vom 20. bis 24. Juli, zum Thema „Braucht eine neue Generation eine neue Pädagogik?", war eine Folge von Musterbeispielen dafür, wie man durch kritische Auseinandersetzung alte Wege neu begehbar machen kann.

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Die „Pädagogische Werktagung" war noch nie ein Tummelplatz für Bildungsrevolutionäre. Gerade die heurige Veranstaltung, vom 20. bis 24. Juli, zum Thema „Braucht eine neue Generation eine neue Pädagogik?", war eine Folge von Musterbeispielen dafür, wie man durch kritische Auseinandersetzung alte Wege neu begehbar machen kann.

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Gar so neu waren sie nicht, jene Grundgedanken, die sich leitmotivisch durch alle Referate der Werktagung zogen. Keiner der Vortragenden fühlte sich bemüßigt, für eine weitere neue Richtung in der Pädagogik eine Lanze zu brechen. So kam es, daß die 1.050 Teilnehmer mit dem befreienden Gefühl abreisen konnten, mit ihrer täglichen, oft aufreibenden Erziehungsarbeit so falsch nicht zu liegen.

„Kinder Kinder sein lassen": Wir dürften unsere Kinder nicht durch „intellektualistische Früherziehung" und übertriebene Forderungen ihres Kindseins berauben. Ein Kind brauche als sichere Basis das Gefühl der Geborgenheit und des Angenommenseins. Man müsse dem Kind aber auch beibringen, sich anzupassen und einzuordnen, damit es nicht in einer Art Scheinwelt aufwachse und später verwundert feststellen müsse, daß es doch nicht der Mittelpunkt des Universums ist.

Hand in Hand damit geht der zweite, alle Referenten einigende Grundgedanke: „Zu sich selbst als Erzieher stehen". Wir sollten die uns zugeschriebene positive Autorität annehmen und nicht, als Überreaktion auf die selbsterlebte negative Erziehung, auf jegliche Autorität verzichten. Aber, und das sei der große Unter-

schied zu früher, dies dürfe nicht mit einer Forderung nach „absolutem Gehorsam" verwechselt werden -daher lautet der dritte Grundgedanke: „Durch den Dialog zur Solidarität": Kinder seien Partner, die das Recht haben, in die Vorstellungen der Eltern „soviel Einsicht wie möglich" zu erhalten.

Daß es die Referenten nicht mit Schlagworten bewenden ließen, sondern den „Lebensnerv" der über tausend Pädagoginnen und Pädagogen trafen, dankten diese den Vortragenden mit gespannter Aufmerksamkeit und manchmal tosendem Applaus.

„Nur den Boden vorbereiten"

„Wir bereiten nur den Boden vor. Der Same ist bereits da. Nach entsprechender Zeit und Pflege wird der Same Wurzeln schlagen und Frucht bringen." Mauricio Wild verglich seine Arbeit als Pädagoge mit der eines Bauern. Mauricio und Rebecca Wild

leiten seit 1977 das „Centro Experi-mental Pestalozzi" in Quito in Ecuador. Ihr Erziehungsprinzip ist die „nicht-direktive Erziehung"; diese ist nicht gleichzusetzen mit der „anti-autoritären Erziehung", vielmehr geht sie aus von der Freiheit zurWahl innerhalb von klaren Grenzen.

„Die Umwelt des Kindes muß so vorbereitet sein, daß in jeder Phase seiner Entwicklung die jeweils elementaren Bedürfnisse gestillt werden", meint Mauricio Wild. Zuerst müsse das Bedürfnis nach Vertrauen und Geborgenheit gestillt werden, danach werde die konkrete Auseinandersetzung mit der Umwelt möglich und erst dann könne das Kind Einsicht in abstrakte Inhalte gewinnen. „Gehen unsere Schüler mit Wissen ohne Verständnis nach Hause, haben wir der Welt geschadet", läutete eine der Aussagen Wilds, die mit spontanem Beilfall bedacht wurden.

„Die Kindheit als eigenständiger

Lebensabschnitt des Menschen ist nicht passe, wie Neil Postman und andere Bestsellerautoren glauben machen wollen", meinte der Schweizer Pädagoge Anton Bucher. Man spreche zwar nicht umsonst von der „Fernseh-, Stadt-, Spielplatz-, oder Alleinerzieher-Kindheit; doch die wesentlichen Merkmale glücklichen Kindseins - „Alles zum ersten Mal, spielerisches Erkunden der Umwelt, Anhänglichkeit an Tier und Mensch und die Geborgenheit in den Räumen der Phantasie" - werden auch weiter Bestand haben.

Dazu bedürfe es nicht einer „Anti-pädagogik", die sich ungefragt zum Anwalt des Kindes mache, sondern einer Absage an pädagogische Allmachtsphantasien. „Wir müssen erziehen", doch dürften wir unsere Kinder nicht durch die Kindheit hetzen und nur das „Noch nicht" des Kindes in den Vordergrund stellen.

Eine sichere emotionale Basis, na-

türliches Lernen in einer erkundbaren Umwelt, die Bereitschaft, einen Teil der Verantwortung zu übernehmen, und das Wissen, daß mit der Adoleszenz Entwicklung und Lernen noch immer nicht abgeschlossen sind, hält Lothar Krappmann vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin, für wesentliche Stationen einer menschlichen Entwicklung.

Nicht mßbrauchen lassen

„Die Machtprofiteure in der Politik und in den Chefetagen der Konzerne, die darüber befinden, welche Schädigungen an Leib, Leben und Seele wir alle in Kauf zu nehmen haben, damit es vorangeht mit dieser Welt, werden sich vergnügt die Hände reiben, wenn sie die Pädagogenzunft damit beschäftigt sehen, die zusammengebrauten Katastrophen kurzerhand zu Erziehungsdefiziten umzudefinieren. Dabei stirbt der Wald nicht aus einem Mangel an Umwelterziehung, und der Friede wird nicht durch unzureichende Friedenserziehung gefährdet." Diese für die Werktagung ungewöhnlich starken Worte kamen von Marianne Gronemeyer, Professorin an der Fachhochschule Wiesbaden.

Die Referentin verneinte klar die Frage, ob eine neue Generation eine neue Pädagogik brauche, sie forderte, daß sich das Bildungssystem nicht länger als „gesellschaftliche Rangordnungsmaschine zur Erzeugung und Legitimierung sozialer Ungleichheit" mißbrauchen lasse.

Die Pädagogische Werktagung, die neben Grundsatzreferaten wieder eine Fülle von Werkkreisen anbot (heuer beispielsweise zur Montessori- und zur Freinet-Pädagogik, zu interkulturellem Lernen und religiöser Erziehung), findet mit jedem Jahr immer größeren Zuspruch. Heuer mußten aus Platzgründen über sechshundert Interessierte abgewiesen werden.

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