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Neues Wahlrecht, alter Hut

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In Grundzügen gibt es das „neue" Wahlrecht bereits seit Herbst 1989. Nur die Wahl­bezirke haben sich ver­mehrt: mehr Regionalisie-rung, nicht unbedingt Per­sonalisierung.

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In Grundzügen gibt es das „neue" Wahlrecht bereits seit Herbst 1989. Nur die Wahl­bezirke haben sich ver­mehrt: mehr Regionalisie-rung, nicht unbedingt Per­sonalisierung.

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Nun ist sie also da, die seit vier Jahren erwartete Einigung der bei­den Koalitionsparteien über eine Wahlrechtssreform. Genauer: Die Unterhändler haben nicht dem Nationalrat vorgegriffen, sondern im Schlußsatz ihres Übereinkom­mens vereinbart, „auf der Basis der vorstehenden Grundsätze ein Wahlgesetz auszuarbeiten und innerhalb von sechs Monaten... dem Nationalrat zur parlamentarischen Beratung vorzulegen".

Die wesentlichsten dieser Grund­sätze:

1. Die neun Landeswahlkreise und das gegenwärtig gültige Mandats-Ermittlungsverfahren bleiben be­stehen; sie werden jedoch in rund 45 Wahlbezirke unterteilt, in wel­chen es zur Wahl von Direkt-Man-dataren kommen soll.

2. Zusätzlich zum gegenwärtig gültigen Vorzugsstimmensystem in den Landeswahlkreisen sollen Kandidaten in den Wahlbezirken dann vorgereiht werden, wenn sie Vorzugsstimmen im Ausmaß von (mindestens) einem Sechstel der Parteistimmen im betreffenden Wahlbezirk erhalten.

3. Eine Partei, die mehr als vier Prozent der gültigen Stimmen er­hält, soll auch dann im Nationalrat vertreten sein, wenn sie kein Grundmandat errungen haben soll­te.

4. Das bisher gültige, zu großen Unregelmäßigkeiten führende Zweite Ermittlungsverfahren soll durch eine gesamt-österreichische Proportionalität (d'Hondt) ersetzt werden. Damit wäre unter ande­rem verhindert, daß eine Partei mehr Mandate erhält, wenn sie Stimmen verliert.

Eigentlich wäre diese Wahl­rechtsreform schon vor mehr als einem Jahr unterschriftsreif gewe­sen. Nach zahllosen mühsamen Anläufen, nach vielen Sitzungen einer aus Abgeordneten aller vier Parlamentsparteien zusammenge­setzten Reform-Kommission, hatte das Bundesministerium für Inneres einen auf dem Ergebnis dieser Dis­kussion beruhenden Entwurf einer Nationalrats-Wahlordnung mit Datum 24. Oktober 1989 ausgear­beitet, der sich von der nunmehr erzielten Übereinkunft im wesent­lichen nur hinsichtlich der Zahl der Wahlbezirke unterscheidet.

Als keinerlei Reaktion seitens des Koalitionspartners erfolgte, brach­ten Abgeordnete der ÖVP diesen Entwurf nochmals, diesmal als Ini­tiativantrag (6. Juni 1990) ein; der Reformwille blieb aber weiterhin auf die ÖVP beschränkt (und auf die Grünen, die ebenfalls einen Reformvorschlag einbrachten). Rückblickend darf vermutet wer­den, daß ein stark regionalisiertes Wahlrecht, das lokale Mandatare stärker in den Vordergrund stellt, der beabsichtigten Wahlwerbung von SPÖ und FPÖ, die jeweils auf einen einzigen Spitzenkandidaten ausgerichtet werden sollte, zuwi­der gelaufen wäre.

„Personalisierung" des Wahl­rechts bedeutet ja zweierlei: Eine engere Nahbeziehung zwischen Mandatar und Wähler durch Schaf­fung kleinerer Einheiten einerseits, mehr Auswahlmöglichkeit zwi­schen Kandidaten durch den Wäh­ler andererseits. Daß in der nun­mehr erzielten Übereinkunft von „rund 45" Wahlbezirken die Rede ist (gegenüber 27 im Vorjahrsent­wurf), kommt dem Wunsch der SPÖ nach einer größeren Zahl von klei­neren Einheiten entgegen; aus­drücklich bekennt sich die Verein­barung auch auch zum zweiten Aspekt der Regionalisierung und versucht, diesem durch ein Vorzugs­stimmensystem auf Wahlbezirks-Ebene Rechnung zu tragen.

Es bleibt abzuwarten, ob sich dieses System - sollte es in dieser Form in Geltung treten - dem ande­ren Weg, den etwa das Vorarlber­ger Landeswahlrecht beschritten hat, als überlegen erweisen wird. Beim Vorarlberger Landeswahl­recht resultiert der jeweilige Li­stenplatz aus einer Summe von Listenpunkten und (vom Wähler vergebenen) Vorzugspunkten; beim für die Nationalrats-Wahlordnung vorgesehenen System geht der Kandidat, der (knapp) weniger als ein Sechstel an Parteistimmen als Vorzugsstimmen erhält, leer aus, jener Kandidat, der (knapp) mehr erhält, springt an die Spitze der Wahlbezirksliste.

Positiv zu verbuchen ist, daß durch diese „Personalisierung" nicht nur der Auswahl attraktiver Kandidaten höheres Augenmerk wird zugewendet werden müssen, sondern daß auch die Kandidaten selbst in höherem Maße als bisher werden bemüht sein müssen, sich vor dem Wähler zu legitimieren.

Daß die Schaffung kleinerer Einheiten auch demokratiepoliti­sche Nachteile aufweist, wurde schon dargelegt (FURCHE 43/ 1990): Gerade in einem Lande wie Österreich, in welchem die Verfas­sung neben dem Nationalrat noch einen Bundesrat als (ausdrücklich regionalpolitisch orientierte) Län­derkammer vorsieht, sollten die Abgeordneten eines „National"-Rates eher auf nationale als auf lokalpolitische Interessen ausge­richtet sein.

Die eigentliche Problematik liegt jedoch tiefer:

Anders als in den USA, sind in den demokratischen Staaten Euro­pas Exekutive und Legislative nicht getrennt, stellen Parlamentswah­len vielmehr die Vorstufe zur Re­gierungsbildung dar. Damit sind Nationalratswahlen eigentlich Regierungswahlen: Der Wähler wählt nicht einzelne Abgeordnete, sondern eine bestimmte Weltan­schauung, ein Programm, eine Partei, bejaht oder verneint eine bestimmte Regierungsform. Im Zeitalter der Telekratie sind Parla­mentswahlen überhaupt zu Sym­pathiekundgebungen für einzelne Leitfiguren geworden.

An dieser Tatsache, an dieser Tendenz ändert sich nichts, wenn der Wähler Präferenzen für einzel­ne Abgeordnete zum Ausdruck bringen kann, oder überhaupt „freie" Kandidaten wählen kann (wie zum Beispiel in Vorarlberg vorgesehen), die in einem Parla­ment, das de facto verlängerter Arm der jeweiligen Regierung ist, nur umso hilfloser agieren müßten. Jede Wahlrechtsreform sollte daher nur als Teil einer generellen Reform unserer demokratischen Entschei-dungsprozesse angesehen werden; ohne eine solche bleibt sie Sym­ptomkur.

In diesem Sinne ist es sicherlich richtig, die diesbezüglich zu erwar­tende Regierungsvorlage noch ei­ner eingehenden parlamentarischen Behandlung zuzuführen, innerhalb derer auch die Oppositionspartei­en ein gewichtiges Wort mitzure­den haben sollten. So verständlich es ist, wenn potentielle Koalitions­partner schon deshalb detaillierte Vereinbarungen treffen, um allfäl­lige spätere Mißhelligkeiten zu minimieren, so sehr gibt es wohl kaum eine andere Materie, die in höherem Maße als die Wahlrechts­reform als ureigenste Aufgabe ei­nes Parlaments anzusehen ist.

Der Autor ist Abgeordneter zum Nationalrat, Wahlrechtsexperte und Professor für Statistik an der Sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien.

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