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Neutralität sucht ihre Begründung

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Corrado Pirzio-Biroli, EG-Botschafter in Österreich, ist der Meinung, daß Neutralitätsdebatten vor 1996 für beide Seiten „nicht hilfreich" wären. Aber die Frage bewegt die Menschen. Weil viele überzeugt sind, daß die Neutralität an und für sich ein gutes sicherheitspolitisches Konzept ist. Gerade in so unsicheren Zeiten, wie wir sie jetzt erleben.

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Corrado Pirzio-Biroli, EG-Botschafter in Österreich, ist der Meinung, daß Neutralitätsdebatten vor 1996 für beide Seiten „nicht hilfreich" wären. Aber die Frage bewegt die Menschen. Weil viele überzeugt sind, daß die Neutralität an und für sich ein gutes sicherheitspolitisches Konzept ist. Gerade in so unsicheren Zeiten, wie wir sie jetzt erleben.

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Wenngleich die öffentliche Meinung nach wie vor zögerlich ist, sich mit dem fundamentalen Wandel des Umfeldes der österreichischen Sicherheitspolitik auseinanderzusetzen und nach wie vor dazu neigt, die Neutralität sowohl als Mittel der Sicherheitspolitik als auch als eine Art österreichischen Selbstzweck zu verstehen, so ist doch den politischen Eliten - wenngleich teilweise in einem mühsamen und langen Weg - klar geworden, daß die Neutralität für Österreich nicht nur nichts mehr bringt, sondern im Gegenteil ein Hindernis auf dem Weg zu seiner westeuropäischen Integration ist. (Viele leugnen das freilich in der Öffentlichkeit im Hinblick auf die Popularität des Neutralitätsdenkens in der Bevölkerung.) Doch es tauchen immer wieder Meinungen auf, daß man eine Politik der Neutralität solange verfolgen sollte, bis eine neue stabile und dauerhafte Situation in Europa gegeben wäre, insbesondere, bis sich ein europäisches kollektives Sicherheitssystem herausgebildet habe. Freilich, wer könnte sich schon leisten, ein EG-oder NATO-Mitglied anzugreifen?

Aber es ist doch fraglich, ob und wann unsere EG-Mitgliedschaft zustande kommt, ob wir in die WEU kommen, ob diese ihrerseits überhaupt funktionieren wird, wann die Europäische Union verwirklicht wird und wann es zu einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, ja gar einer gemeinsamen Verteidigungspolitik der EG kommen wird, was aus der NATO wird und so weiter.

Da bietet es sich nun als Option zu dieser Unsicherheit doch an, im Hinblick auf all die Konflikte, die sich in Europa, insbesondere im Osten und Südosten herausbilden werden oder die schon entstanden sind, eine offizielle Politik der Neutralität anzukündigen, jedenfalls den Neutralitätsstatus beizubehalten.

Würde das nicht mehr Sicherheit bringen, als sich, ohne Mitglied eines westeuropäischen Verteidigungsbündnisses zu sein, mit einer Politik der EG zu solidarisieren?

Darüber hinaus gibt es auch noch Auffassungen, daß die Neutralität -ganz entgegengesetzt zu den vorherigen Überlegungen - zwar in bezug auf Europa relativiert werden sollte (Europäische Solidarität), aber außereuropäisch global wirken könnte. Neutral bleiben hätte also einen Sinn, weil es immer wieder Konflikte und Kriege zwischen Ländern, etwa in Afrika oder Asien, geben wird.

Letzterer Aspekt hat wohl nichts oder sehr wenig mit österreichischer

Sicherheitspolitik zu tun, weil derartige Drittweltkonflikte uns, beziehungsweise unsere sicherheitspolitischen Fragen nicht berühren. Sie sind deshalb ideologischer Natur, also der Wunsch, unter irgendwelchen Umständen doch neutral bleiben zu können beziehungsweise der Neutralität Sinnhaftigkeit zu geben: Neutralität sucht ihre Begründung und findet sie.

Die Überlegung einer Neutralität im ost- und südosteuropäischen Kontext ist hingegen tatsächlich eine Frage der österreichischen Sicherheitspolitik und bedarf einer Antwort. Dazu sollte man freilich vorher eine grundsätzliche Überlegung darüber anstellen, was die Neutralität eigentlich leisten kann.

Neutralität bedeutet die Absicht eines Landes, sich an künftigen Kriegen oder Konflikten nicht zu beteiligen. Ob diese Absicht aber zum Ziel führt, das hängt auch von den Absichten der anderen, der Kriegführenden, ab - oder vielmehr: es hängt insbesondere von den Absichten der anderen ab. Nämlich davon, ob sie glauben, das Territorium des Neutralen zu gebrauchen. Oder ob sie zumindest glauben, daß der Gegner das Territorium gebrauchen könnte und man diesem zuvorkommen muß.

Der Erfolg einer Neutralitätspolitik im Sinne eines Heraushaltens aus Kriegen hängt schließlich auch davon ab, welche Erwartungshaltungen die Kriegführenden gegenüber einem Neutralen haben.

Davon nämlich wird es abhängen, wie sie ihn behandeln und da diese Erwartungshaltungen zwischen den verschiedenen Kriegführenden verschieden sein werden, so kann der Neutrale durchaus in eine Position kommen, daß er nicht imstande ist, beide Erwartungshaltungen zu erfüllen. Ob im Falle des Interesses an seinem Territorium oder weil ein Neutraler die Erwartungshaltung eines Kriegführenden nicht erfüllt, er dann tatsächlich in den Krieg hineingezogen wird, das wird sehr entscheidend von der militärischen Stärke des Neutralen beziehungsweise von den gesamten militärischen Kräfteverhältnissen und Konstellationen abhängen.

Wenn also kein Interesse am Territorium des Neutralen vorhanden ist und es möglich ist, die Erwartungshaltungen der Kriegführenden zu erfüllen, so braucht sich der Neutrale um sein Heraushalten aus dem Krieg eigentlich nur sehr wenig Sorgen zu machen. Wenn hingegen das Interesse gegeben ist, dann ist es völlig egal, ob er neutral ist oder nicht; es hängt von den militärischen Gegebenheiten und von der militärischen Stärke des Neutralen selbst ab, ob ihn der Krieg ereilt. Genauso würde das auch hinsichtlich der Involvierung in Konflikte der osteuropäischen und der Balkan-Länder sein.

Hat man aggressive Absichten Österreich gegenüber oder will man Österreich zu einem bestimmten Verhalten zwingen, und sind dazu militärische Mittel oder Sanktionen geplant, so hängt deren Anwendung sicherlich nicht davon ab, ob Österreich eine Neutralitätspolitik verfolgt. Sie wird davon abhängen, ob Österreich imstande ist, sich selbst zu verteidigen und zu schützen oder ob es gemeinsam mit Verbündeten dazu imstande wäre. Das sind die Kriterien, ob es aus künftigen Konflikten heraußen bleiben kann. Ein Neutralitätsstatus kann einer Politik des Heraushaltens unter Umständen nützlich sein; wesentlich dafür wird er in der rauhen Wirklichkeit des Zusammenlebens der Staaten aber nicht sein.

Alle Überlegungen, die davon ausgehen, daß Neutralität beziehungsweise Neutralitätspolitik von vornherein schon eine wesentliche Schutzwirkung bedeuten, sind sohin mit Skepsis zu betrachten. Neutralitätspolitik ist im Grunde genommen eine spekulative Politik, eine Erwartungshaltung, daß es schon gut gehen werde. Dabei sind Wunschvorstellungen beziehungsweise die Verweigerung gegenüber der Wirklichkeit die Triebfedern des Denkens. Die historischen Erfahrungen zeigen - leider - daß Neutralität nicht schützt, wenn ein Aggressor vermeint, das Territorium des Neutralen zu brauchen und sich zur Inbesitznahme imstande sieht. Regelmäßig genügte es schon, daß ein Neutraler am Rande des Weges zu einem anderen Ziel eines Kriegführenden lag, um mit Krieg überzogen zu werden. Für den Sicherheitspolitiker muß deshalb alles als bedenklich, wenn nicht gar verantwortungslos erscheinen, was Österreich davon abhalten kann, sich sicherheitspolitisch in den Westen zu integrieren. Im Zusammenhang mit der relativen militärischen Schwäche unseres Landes - an der alle relevanten politischen Kräfte offenbar nichts ändern wollen - kann nur das Bündnis mit dem zivilisierten europäischen Westen ein großes Maß an Sicherheit für unser Land bringen. Gedankenspiele über die möglichst lange Beibehaltung der Neutralität dürfen nicht von diesem Ziel abhalten.

Der Autor ist Leiter der Präsidial- und Rechtssektion im Bundesministerium für Landesverteidigung.

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