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Neuwahlen noch im Fruhjahr?

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Immer mehr Kanadier vermuten, daß Wahlen in diesem Frühjahr unvermeidlich geworden sind, obwohl die liberale Regierungspartei bei den jüngsten Meinungsumfragen mit 42 Prozent nicht allzugut abgeschnitten hatte. Die konservative Oppositionspartei kann nach dem derzeitigen Stand der Umfragen mit 34 Prozent der Stimmen rechnen. Was die derzeitige Wirtschaftslage anbetrifft, erwarten sich nur Optimisten für die nahe Zukunft eine Verbesserung.

Seit zehn Jahren lenkt Premierminister Pierre Trudeau die Geschicke des zweitgrößten Landes der Erde, und „Dislogue“, das Organ der Liberalen Partei Kanadas, behauptet unbekümmert, daß er der fähigste Staatschef der Welt sei. Tatsächlich sind heute jedoch 882.000 Kanadier arbeitslos, die Inflation ist auf 9,5 Prozent angeklettert, und in der größten Provinz des Landes ist seit November 1976 eine separatistische Regierung an der Macht, deren Ziel die Ausrufung der Republik Quebec ist.

Daß Premierminister Trudeau selbst bei eisigem Wetter bei Versammlungen im südlichen Ontario auftauchte, bestärkte nur noch jene politischen Beobachter, die den Zeitpunkt für Neuwahlen in greifbare Nähe gerückt sehen. Bei der letzten Stimmenabgabe erhielten die Liberalen 141 und die Konservativen, die größte Oppositionspartei, 95 der 264 Mandate. Nur der Triumph in der Liberalen-Hochburg Quebec ermöglichte Trudeau den Wahlsieg, eroberte er doch allein in seiner Heimatprovinz 60 der 74 zu vergebenden Mandate, die Konservativen hingegen nur drei. In den anderen neun Provinzen gewannen die Konservativen durchwegs mehr Mandate als die Liberalen. Sie siegten in 92 Wahlkreisen, Trudeaus Partei aber nur in 81.

Wie immer man Trudeaus Regierungstätigkeit beurteilen will, Tatsache ist, daß die Kanadier heute unzufriedener denn je sind. Das dramatische Absinken des Dollars (der die Importe verteuerte), die hohe Arbeitslosigkeit, die wachsende Inflation und die mögliche Absplitterung der Provinz Quebec sind die Gründe dafür. William Dimma, Präsident des „Toronto Star“ - der größten Zeitung des Landes - kritisierte die gegenwärtige innenpolitische Untergangsstimmung, als er schrieb: „Der vorherrschende Pessimismus und die ewige Unzufriedenheit sind keine Hilfe für unser von Problemen überschattetes Land.“ Er führte Kanadas Minderwertigkeitskomplex auf die einstige politische Abhängigkeit von England und die gegenwärtige wirtschaftliche und kulturelle Abhängigkeit von den Vereinigten Staaten zurück.

Pierre Trudeaus größtes Aktivum für einen Sieg bei den kommenden Wahlen ist- so paradox es klingen mag - die prekäre, politische Lage Kanadas. Zu einem Zeitpunkt, da der mögliche Abfall von Quebec das brennendste Problem der Nation ist, kann der Premierminister auf ein gutes Abschneiden hoffen, obwohl es vielleicht nur zu einer liberalen Minderheitsre-gierung reichen wird. Trotz hoher Arbeitslosigkeit und steigender Inflation sind Trudeaus Chancen nicht ungünstig, da viele Kanadier in ihm den fähigsten politischen Gegenspieler für den dynamischen Separatistenführer Rene Levesque - den Regierungschef von „La Belle Province“ - sehen. Noch kann niemand voraussagen, ob sich bei der kommenden Volksabstimmung über die Zukunft von Quebec auch die Zukunft der Nation Kanada entscheiden wird.

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