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Nicht an allem ist das Konzil schuld

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Im Herbst ziehen die Bischöfe der Welt Bilanz über die Auswirkungen des Zweiten Vatikanums. Erleben wir seit 1965 einen Verfallsprozeß oder eine Pubertätskrise der Kirche?

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Im Herbst ziehen die Bischöfe der Welt Bilanz über die Auswirkungen des Zweiten Vatikanums. Erleben wir seit 1965 einen Verfallsprozeß oder eine Pubertätskrise der Kirche?

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Ende dieses Jahres findet in Rom eine Sondersynode statt, auf der die Entwicklung der Kirche in den 20 Jahren seit dem Konzil und die Verwirklichung desselben überprüft werden sollen. Kardinal Joseph Ratzinger, der Präfekt der Glaubenskongregation, hat in einem Gespräch mit einem italienischen Publizisten, das demnächst auch in deutscher Sprache erscheinen soll, bereits Bilanz gezogen. Er sieht die Entwicklung weitgehend negativ. Seit dem Konzil ist seiner Meinung nach ein Verfallsprozeß in Gang gekommen.

Die folgenden Überlegungen hingegen gehen von der Vermutung aus, daß die Situation der Kirche 20 Jahre nach dem Konzil keinesfalls nur und nicht in erster Linie vom Konzil her verstanden werden kann; als ob seither aufgetretene Schwierigkeiten durch dieses verursacht wären.

Vielmehr wird angenommen und im folgenden aufzuzeigen versucht, daß das Konzil erst der Beginn einer Auseinandersetzung mit schwerwiegenden Fragen des Glaubens und der Kirche war, die nachher voll aufgebrochen sind, ohne daß die Auswirkungen dieser Probleme dem Konzil angelastet werden dürften.

Vor dem Konzil haben sich in der Kirche viele ungelöste Probleme aufgestaut, die ihr inneres Leben und ihr Wirken in der Welt bereits verhinderten. Das Konzil wollte sich diesen Problemen stellen, sich mit ihnen auseinandersetzen, ohne noch genau zu wissen, wie tiefgreifend sie waren.

Erst im Verlauf des Konzils und mehr noch bei den postkonzilia-ren Versuchen ihrer Bewältigung zeigte sich die Größe der Schwierigkeiten. Daher ist die Versuchung groß, dem Konzü die Schuld daran zu geben und zum früheren Zustand zurückzukehren, in dem jene Fragen nicht gesehen oder unterdrückt wurden. So können sie aber nicht gelöst werden. Sie werden sich immer wieder und immer stärker auswirken.

Durch die Aufklärung und das Aufkommen der modernen Naturwissenschaft, durch den Pluralismus der Weltanschauungen und vor allem durch die moderne Religionskritik (Feuerbach, Marx, Freud) ist der Glaube grundlegend erschüttert worden, ohne daß die damit aufgetauchten Probleme bis heute wirklich gelöst wären. Das religiöse Weltbild, das von der Bibel vorausgesetzt wird, ist zusammengebrochen.

Die idealistische Metaphysik der platonischen Philosophie, welche den Glauben durch Jahrhunderte abstützte, hat ihre Überzeugungskraft verloren. Die Zeitbedingtheit biblischer und dogmatischer Sprachformen und Vorstellungen wird deutlich gesehen. Es herrscht eine große Unsicherheit in der Auslegung der Bibel und im Verständnis der Dogmen. Die Antwort des Christentums auf die gesellschaftlichen und politischen Fragen der Gegenwart ist ungenügend bzw. umstritten.

In dieser Situation ist der Glaube um so mehr auf Erfahrungen angewiesen, die durch die Kirche vermittelt werden sollten. Doch diese ist auch aus anderen als den eben genannten Gründen in einer Krise. Sie bietet nicht das Bild einer geschwisterlichen Gemeinschaft, die Gott als den Vater der Menschen bezeugt und Modell einer neuen Gesellschaft sein kann.

Ihre herkömmlichen Autoritätsstrukturen werden in der Neuzeit, in der die Menschheit auf dem Weg zur Mündigkeit ist oder sein will, radikal in Frage gestellt. Der berechtigte Wunsch nach eigener Entscheidung und Verantwortung führt zu Mißtrauen gegenüber der Hierarchie. Diese hatte es auch weithin verabsäumt (und nicht für nötig gehalten), ihre Lehre zu begründen.

Wie in der Pubertät des einzelnen ist auch in dieser Pubertätskrise der Menschheit bzw. der Kirche die Gefahr groß, mit der Ablehnung menschlicher Autorität auch jene Auffassungen über Bord zu werfen, die von dieser Autorität vertreten werden.

Eine Begründung durch Einsicht und Erfahrung ist oft noch nicht gegeben, und der dafür nötigen Mühe will man sich nicht gerne unterziehen. Als Reaktion darauf können die Träger der Autorität leicht auf den Gedanken kommen, den Dialog aufzugeben und durch disziplinare Maßnahmen die frühere Ordnung zurückzugewinnen.

Das Konzil hat sich diesen Fragen und Anliegen geöffnet, sie nicht mehr verdrängt. Darin besteht seine einmalige Bedeutung. Der Mut zu dieser längst fälligen Auseinandersetzung ist eine Frucht des Heiligen Geistes, der im Glauben Papst Johannes' XXHL gewirkt hat. Dieser wollte die Fenster der Kirche öffnen, um frische Luft hereinzulassen.

Daß mit dieser frischen Luft so viele ungelöste Fragen und Gegensätze aufbrechen würden, konnte wohl auch er nicht ahnen. Diese waren schon lange vor dem Konzil da und konnten erst durch dieses in der Kirche zur Sprache kommen.

Mutig Antworten suchen

In diesen Fragen hat das Konzil aber erst den Beginn einer Aufarbeitung gebracht. Zum Teil wurden sie noch gar nicht gesehen (z. B. die Notwendigkeit einer Untergliederung der Ortskirchen in überschaubare Personalgemeinden, in denen die geschwisterliche Liebe der Christen erfahren, eingeübt, gelebt und bezeugt werden kann; sowie einer Erwachsenentauf erneuerung nach einem nachgeholten Katechumenat, um die Schattenseiten der Kindertaufe auszugleichen und die Mündigkeit aller Glieder des Volkes Gottes zu ermöglichen), zum Teil als Aufgabe gestellt (z. B. Bibelauslegung).

Zum Teil wurden gegensätzliche Lösungen einfach nebeneinander gestellt, ohne versöhnt zu werden (z. B. Primat und Kollegialität), zum Teil Kompromisse formuliert (z. B. im Verhältnis allgemeines — besonderes Prie-stertum).

All dies bedeutet noch keine Lösung, sondern hat notwendig zur Folge, daß die Probleme erst nachher in voller Wucht aufbrechen und sich die Vertreter der verschiedenen gegensätzlichen Ansichten alle auf das Konzil berufen können.

Diese kritischen Bemerkungen bedeuten jedoch keinesfalls, daß das Konzil unrichtig gewesen wäre. Es kam einerseits zu spät, andererseits reicht die Zeit einiger Jahre nicht, um diese Fragen zu lösen. Daher ergibt sich als einzige Konsequenz, mutig die Antwort auf die aufgetauchten Fragen zu suchen (dabei ist weiterhin mit einer schwierigen Ubergangszeit zu rechnen, in der die alten Lösungen ihre Kraft verloren haben, die neuen aber noch nicht gefunden sind).

Diese Antwort muß eine Synthese sein, die die berechtigten Anliegen der gegensätzlichen Meinungen aufgreift, ihre Einseitigkeiten (die meistens in falschen — oft in den gleichen — Voraussetzungen liegen) überwindet und sie so auf einer höheren Ebene vereint.

Gerade der Glaube sagt uns, daß eine solche Synthese zu finden ist. Sie wird von jenen gefunden werden, die sich trotz schmerzlicher Gegensätze dem Anspruch der Einheit stellen, gemäß dem letzten Gebet von Papst Johannes XXIII.: „Daß alle eins seien.”

Der Autor ist Pfarrer in Wien-Machstraße.

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