6796188-1971_11_19.jpg
Digital In Arbeit

Nicht für den Augenblick

Werbung
Werbung
Werbung

Die österreichische Wirtschaft befindet sich seit 1968/69 in der längsten und stärksten Konjunkturphase der letzten zehn Jahre. In diesen drei Jahren sind alle jene Probleme scheinbar in den Hintergrund getreten, die in der ersten Hälfte der sechziger Jahre die Besorgnis über den künftigen Weg der österreichischen Wirtschaft wachsen ließen.

Im Vordergrund der Befürchtungen der Wirtschaftsforscher stand damals die Tatsache, daß vor allem das Wachstum der Industrieproduktion als Motor der Gesamtwirtschaft zu ver-sieleö drbhte, Zunehmėhde Strukturschwie-

rigkeiten im weiten Bereich der Industrie, rückläufige Indiistrieinvestitionen bei gleichzeitiger stärkerer Verlagerung in den tertiären Wirtschaftssektor, wurden von den Fachleuten besorgt registriert und ließen das Schlagwort von der „vorzeitigen Vergreisung" der österreichischen Wirtschaft entstehen.

Die Wirtschaftspolitik hat sich von 1966 bis 1970 vornehmlich auf Wachstums- und strukturpolitische Aufgaben konzentriert. Mit den sogenannten „Wachstumsgesetzen" wurde die Voraussetzung für eine Stärkung der Investitionsneigung gesetzt. Die . industriepolitischen

Akzente der folgenden Jahre dienten letztlich dem gleichen Ziel. Durch das Strukturverbesserungsgesetz, das Gesetz über den Entwick- lungs- und Erneuerungsfonds und die Verbesserung der kreditpolitischen Voraussetzungen für die Investitionsfinanzierung wurden zusätzliche Instrumente für die Bereinigung strukturpolitischer Probleme geschaffen. Der kräftige internationale Konjunkturaufschwung hat in der Folge eine zunehmende Nutzung und Anwendung dieser Instrumente ermöglicht und zu einer Verstärkung des Wachstumsprozesses beigetragen. In der Folge konnte die Wachstumsschwäche der Industrie aus der ersten Hälfte der sechziger Jahre eindeutig überwunden werden. Seit 1968 ist die Industrieproduktion wieder eindeutig zum Motor der gesamtwirtschaftlichen Expansion geworden. Rationalisierungs- und Erweiterungsinvestitionen im Bereich der Güterproduktion haben mehr als kräftig zugenommen und den Rückstand, der in den Jahren von 1960 bis 1965 entstanden war, bei weitem aufgeholt. Der Investitions- und Entwicklungsprozeß der österreichischen Wirtschaft ging in den letzten Jahren zweifellos in eine Richtung, die eine allmähliche Behebung der vorhandenen Strukturschwächen erwarten läßt. Dennoch muß man sich im klaren darüber sein, daß einige Jahre kräftiger Investitionstätigkeit in einer Hochkonjunktur nicht ausreichen können, um alle Strukturschwächen, vor allem im Bereich der Basisindustrien, vollends beheben zu können. Ein Teil jener Probleme, die vor vier bis fünf Jahren deutlich sichtbar geworden sind, werden derzeit durch die Hochkonjunktur nur überdeckt. Sie werden in absehbarer Zeit wieder deutlich hervortreten. Das bedeutet, daß es für eine Wachstums- und strukturorientierte Wirtschaftspolitik keine Pause geben darf.

Die Wirtschaftsforscher signalisieren für Österreich im laufenden Jahr eine erhebliche Verringerung der realen Wachstumsrate. Statt etwa 7% wie im vergangenen Jahr, erwartet man heuer etwa 4%. Gleichzeitig wird ein Anhalten der überdurchschnittlich hohen Preissteigerungsrate vom Vorjahr erwartet. Die Anzeichen einer allmählichen Verflachung der Konjunktur sind daher kaum zu übersehen. Angesichts dieser Fakten werden wirtschaftliche und wirtschaftspolitische Fragen, die im letzten Jahr stark in den Hintergrund gedrängt worden sind, nun wieder mehr an Aktualität gewinnen und in das Zentrum des Öffentlichkeitsinteresses rücken.’ Die innenpolitische Situation hat es mit sich gebracht, daß ein Jahr für die Fortführung einer zielführenden Wirtschaftspolitik verlorengegangen ist. Leider ist schon das Jahr 1970 nicht dazu genützt worden, der damals rasch zunehmenden Konjunkturüberhitzung wirksam entgegenzutreten. Der Einsatz konjunkturpolitischer, vor allem budgetpolitischer Mittel hätte die Ausgangssituation für das Jahr 1971 erheblich verbessern können. Durch die Absenz der Wirtschaftspolitik wird demnach das Problem der Budgetgestaltung für die kommenden Jahre um so schärfer zutage treten. Die zu erwartende Verlangsamung des Wirtschaftswachstums wird für 1972 zweifellos zu einem unterdurchschnittlichen Zuwachs der Staatseinnahmen führen, während die Ausgaben als Folge einer überdurchschnittlichen Inflationsrate unverändert, wenn nicht stärker steigen werden als bisher. Das strukturelle Budgetdefizit, das sich in den Jahren der Hochkonjunktur zwischen sieben und acht Milliarden Schilling eingependelt hatte, wird zwangsläufig erheblich größer werden und unvermeidlich zu budgetpolitischen Maßnahmen zwingen. Der Zeitdruck unter dem diese Fragen gelöst werden müssen, wird im zweiten Halbjahr 1971 deutlich zutage treten.

Die mangelnde Vorliebe für die Behandlung wirtschaftspolitischer Fragen wird sich vor allem im Bereich der verstaatlichten Industrie in absehbarer Zeit nachhaltig auswirken. Die Hochkonjunktur hat natürlich da-

zu beigetragen, daß die unverändert vorhandenen Strukturprobleme, überdeckt worden sind. Die Unterlassungen des letzten Jahres, besonders hinsichtlich der Konzentration und Fusion in wichtigen Bereichen, wird sich aber dann in aller Folgenschwere herausstellen, wenn die internationale Konjunktur schwächer wird und die derzeit bestehenden Verkäufermärkte sich wieder zu Käufermärkten wandeln und unter dem Druck der internationalen Konkurrenz die Schwächebereiche wieder deutlicher zutage treten. Es ist bedauerlich, daß gerade in der jüngsten Zeit alarmierende Hiobsbotschaften die Öffentlichkeit erreichen, denen zufolge wichtige Großprojekte, die in den letzten Jahren vorbereitet worden sind, nun in der Realisierung gefährdet erscheinen. Dies gilt besonders für das Kernkraftwerk und die Raffinerie in der Steiermark. Die wirtschaftliche Zeche für die labile innenpolitische Lage seit dem April des vergangenen Jahres wird erst in der Zukunft zu bezahlen sein.

Die österreichische Bevölkerung hat ein Recht darauf, daß der wirtschaftliche und wirtschaftspolitische Weg der letzten Jahre, der so deutliche Erfolge gezeitigt hat, weiter fortgesetzt wird und daß damit die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Entwicklung auch in der Zukunft geschaffen werden.

Erfolgreiche Wirtschaftspolitik setzt aber Verantwortungsbewußtsein und sachliche Behandlung der Probleme voraus. Kurzfristig orientierte Popularitätshascherei mag dem Augenblickserfolg dienlich sein. Auf lange Sicht wird dabei aber mehr Porzellan zerschlagen, als der Sache nützt.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung