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Nicht immer gleich zur Pille greifen

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Der Gesunde benötige, selbst wenn er sich einmal nicht ganz wohl fühlt, keine Medikamente. Mit kleineren Unpäßlichkeiten werde der Organismus in der Regel selbst fertig. Allerdings setze das einen gewissen Lernprozeß voraus. Denn wer bei Kopfschmerzen einmal zur Pille gegriffen hat, würde es immer wieder tun, wenn er es nicht gelernt habe, mit vorübergehenden Schmerzen zu leben. Mit dieser Warnung wandte sich Professor H. E. Bock (Tübingen) bei der Eröffnung der diesjährigen Karlsruher Therapiewoche gegen die in unseren Tagen weitverbreitete Unsitte, bei jeder kleinsten Unpäßlichkeit zur Püle zu greifen.

Schon heute glauben viele Kinder und Erwachsene, zu jeder Mahlzeit gehöre auch irgendeine Arznei. Der in der Öffentlichkeit sehr verbreitete Glaube an die alleinige Heilkraft von Medikamenten kann unter Umständen dem einzelnen sehr gefährlich werden. So ist der Schmerz ein Leitsymptom, das auf Krankheiten hinweist. Wird er ständig durch Medikamente unterdrückt, können ernsthafte Leiden zu spät diagnostiziert werden.

Professor Bock erinnerte in Karlsruhe aber auch daran, daß viele Gesunde gewohnheitsmäßig Medikamente „zur subjektiven und zur objektiven, phantastischen oder tatsächlich möglichen, zur sinnvollen oder sinnlosen Vorsorge ihrer Lebenslust oder Lebensdauer” schluk- ken. Die Anti-Babypille, Geriatrika und Veijüngungskuren sind in diesem Zusammenhang genau so zu nennen wie der Mißbrauch- von Arzneimitteln im Sport (Doping).

Pharmakologisch unerwünschte Nebenwirkungen, vor allem aber Mißbrauch, Gewöhnung und Sucht zwingen zum Nachdenken; die Entwicklung der letzten Jahre muß gebremst werden. Wie schwer die Umkehr jedoch ist, zeigen Alkohol und Nikotin; zwei Genußmittel, die seit vielen Jahrzehnten von weiten Teilen der Bevölkerung bedenkenlos konsumiert werden, obwohl jedermann die gesundheitlichen Auswirkungen dieser „Drogen” kennt.

Medikamente werden heute nicht nur zur Behandlung von Krankheiten eingesetzt, sondern dienen in speziellen Fällen auch der Gesundheitsvorsorge. Erinnert sei in diesem Zusammenhang nur an die Schutzimpfung, bei der „Gesundheit durch milde Krankheit” erstrebt wird. Der Organismus wird gegenüber den Attacken von Erregern widerstandsfähiger oder weniger empfindlich, wenn Gesunden abgeschwächte Erreger verabfolgt werden. Auf diesen Reiz antwortet der Organismus mit der Bildung von spezifischen Abwehrstoffen, die längere Zeit vor den Erregern schützen.

Impfstoffe sind aber nur ein Beispiel für die Anwendung von Medikamenten in der Vorsorgemedizin. Professor Bock nannte in Karlsruhe einige Beispiele, in denen Arzneimit tel durchaus eine Berechtigung in der Vorsorgemedizin haben. An erster Stelle erwähnte er den „Lytischen Cocktail”, den heute Patienten vor einer Operation erhalten. Er ist nicht gegen die Krankheit schlechthin gerichtet, sondern soll den Patienten beruhigen, die Einleitung der Narkose erleichtern, störende Reflexe und voraussehbare Nebenwirkungen abschwächen.

Auch die Narkosemittel müssen in diesem Zusammenhang erwähnt werden. Sie ermöglichen bekanntlich erst bestimmte schwere Operationen. Medikamente erhält der Gesunde aber auch bei einer Reihe von diagnostischen Eingriffen, etwa bei Röntgenuntersuchungen.

Als medikamentöse Vorsorge bei Reaktor-Unfällen wird eine Stillegung der Schüddrüse mit Jod-Ka- lium-Tabletten befürwortet. 0,5 Gramm Kaliumjodid sollen momentan verhindern, daß die Schilddrüse radioaktives Jod speichert. Ob durch eine derartige Maßnahme die kriti sche Gesamtbelastung des Körpers verhindert werden kann, ist - meinte Professor Bock - nur schwer abzuschätzen. Überhaupt werde, mit der prophylaktischen Einnahme von Medikamenten nicht immer das erstrebte Ziel erreicht. So werden beispielsweise die gefürchteten Reisedurchfalle weniger durch Medikamente verhindert als vielmehr durch konsequente hygienische Maßnahmen.

Die Grenzen zwischen Vorbeugung und Therapie sind fließend. Das zeigt sich etwa bei der jahrelangen vorsorglichen Behandlung von Herz- infarkt-Patienten durch Beta-Blok- ker. Auch die Ausschaltung gewisser Risikofaktoren, die zu Herz-Kreislauf-Erkrankungen führen, durch Medikamente - wie Senkung des Cholesterinspiegels durch das erst kürzlich vom deutschen Bundesgesundheitsamt wieder zugelassene Clofibrat - gehören hierher.

Die Möglichkeiten, die sich der medikamentösen Gesundheitsvorsorge heute eröffnen, sind groß. Die Gabe von Aspirin bei beschwerdefreien Patienten mit Krampfadern oder mit künstlichen Blutgefäßen gehört in diesen Bereich. Zwar können durch die Verabreichung von Aggregationshemmem Blutungen im Magen-Darm-Trakt ausgelöst werden, doch ist das Offenhalten von Gefäßprothesen in der Regel viel wichtiger. Daher muß der Arzt im Einzelfall Nutzen und Risiko abwägen.

Daß die medikamentöse’ Gesundheitsvorsorge bereits heute große Erfolge aufzuweisen hat, ist unbestritten. An der Entwicklung neuer Geriatrika und von Wirkstoffen gegen die Arteriosklerose wird zur Zeit in der pharmazeutischen Industrie intensiv gearbeitet. Aber noch sind viele Fragen offen. Um sie zu klären benötigt die Präventivmedizin dringend den klinischen Pharmakologen, betonte Professor Bock, der das reichliche Angebot solcher Gesundheitsvorsorgemittel prüft und auf eine wesentlich bessere pharmakologische Grundlage stellt

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