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Nicht ins Ghetto

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Der ehrwürdige Wallfahrtsort glich am Festtag der Mutter Gottes von Tschenstochau einem Heerlager. Es hatten sich, wie jedes Jahr, Pilgergruppen aus allen Teilen Polens sowie der gesamte polnische Episkopat vor dem Marienheiligtum eingefunden. In diesem Jahr aber nahm die Tschenstochauer Wallfahrt den Charakter einer politischen Demonstration an.

Vor zirka 30.000 Pilgern, die Jasna Gora, den hellen Berg, umlagerten, rief Kardinal Stefan Wys-zynski das polnische Volk auf, den Plänen der Regierung für eine Schulreform energischen Widerstand entgegenzusetzen. Der polnische Primas appellierte eindringlich an die Familien, Erzieher und Seelsorger, die christliche Erziehung der Kinder zu sichern. Gerade dieses soll nämlich durch die Reformpläne des Regimes verhindert werden.

Bisher war es wenigstens möglich gewesen, die Kinder, wenn auch nicht innerhalb, so doch außerhalb des Schulgebäudes und der Schulzeit religiös zu unterrichten. Und zwar mit großem Erfolg. Mit Ausnahme der Kinder von Parteigenossen erschienen fast alle Kinder und Jugendlichen in ihrer Freizeit zum Religionsunterricht, der in Kirchen, Pfarrsälen, Wohnzimmern und Scheunen abgehalten wurde. Die Regierungspläne, die kurz vor der Verwirklichung stehen, sehen die Errichtung von Mittelpunkts- und Ganztagsschulen vor. Die heftige Kritik der Kirche richtet sich jedoch nicht gegen eine Ausweitung und Qualifikation der Fachausbildung an den Schulen; sie richtet sich vielmehr gegen die eigentliche Absicht

und praktischen Konsequenzen der kommunistischen Schulreform: die Unterbindung der religiösen Erziehung. Denn an Werktagen haben die Kinder auch nachmittags die Schulbank zu drücken — und sonntags werden sie als „junge Pioniere“ für Ausflüge und Geländespiele in Anspruch genommen.

Polens Kathollken hatten schnell begriffen, daß hinter den von der Propaganda als fortschrittlich gepriesenen Reformplänen allzu deutlich das alte partei- und regierungsamtliche Interesse zum Vorschein kam, die blühenden kirchlichen Aktivitäten zu beschränken, die Jugend von der Kirche zu trennen und die Kirche ins Ghetto zu schicken. Kardinal Wyszynski, der von 1953 bis 1956 seinen Freimut mit Arrest zu büßen hatte, hat nun offensichtlich seine Hoffnung auf einen Modus vivendi zwischen katholischer Kirche und kommunistischer Regierung aufgegeben und ist zur Offensive übergegangen.

In seiner Wallfahrtspredigt berief sich der Kardinal auf die polnische Staatsverfassung, die die Religionsund Gewissensfreiheit garantiert, und klagte indirekt die Regierung des Verfassungsbruches an: „Nach der Verfassung der Volksrepublik Polen ist es unter Strafe verboten, die freie Religionsausübung zu verhindern ... Nach so langer Zeit der Knechtschaft verlangen wir, daß uns erlaubt wird, Gott zu dienen — nicht nur im Verborgenen, sondern auch in der Öffentlichkeit. Wir verlangen, daß uns erlaubt wird, unsere Kinder im christlichen Geiste zu erziehen — zu Hause, in der Kirche, in der Schule, in den Ferienlagern, überall...“

An diesem denkwürdigen 26. August wurde von allen Kanzeln Polens ein Hirtenbrief der polnischen Bischofskonferenz verlesen, der die freie Religionsausübung zum Thema hatte und an Entschiedenheit und Stärke nichts zu wünschen übrig ließ. Eine Touristengruppe aus der Sowjetunion, die zufällig Zeuge des Hirtenwortes wurde, wunderte sich darüber, daß der Pfarrer nicht von der Kanzel weg verhaftet wurde. Zweifellos hat von allen Kirchen im Bereich des Ostblocks die polnische Kirche die meisten Möglichkeiten der freien Entfaltung, wenn sich die polnischen Katholiken diese Freiheiten auch oft genug einfach nehmen. Mit beispielloser Findigkeit werden hier Gesetzeslücken ausfindig gemacht, werden behördliche Verordnungen unterlaufen oder umgangen.

Die Kirche in Polen ist wie keine andere in Europa Volkskirche, sie umfaßt alle Berufs-, Bildungs- und Altersschichten und kann sich weitgehend mit der polnischen Nation identifizieren.

Die Solidarität der Gläubigen, die Stärke der Kirche, zwingt die kommunistische Regierung, gewisse Rücksichten zu üben, um nicht den gebündelten Volkszorn in Form von Aufständen zu provozieren. Jedoch haben Partei und Regierung mit ihrem totalitären Anspruch keineswegs ihr Ziel aufgegeben, durch allerlei Maßnahmen die öffentliche Bedeutsamkeit der Kirche zu eliminieren. Die Politik des Regimes ist darauf gerichtet, die Kirche als Garant der bisher noch bestehenden bürgerlichen Freiheiten Stück für Stück auszuschalten. Denn die Kirche gilt als Haupthindernis für den Aufbau einer sozialistischen Einheitsgesellschaft, die keine geistigen Freiräume zuläßt.

Der Staat bedient sich hierbei einer Doppelstrategie: auf der einen Seite verlockende Angebote, anderseits eine Politik der Nadelstiche, der Behinderungen und Verbote. Seit Jahren lockt der Staat mit Versprechungen: die Besoldung der Geist-lichkSit zu übernehmen, mehr Papierzuteilungen und Druckgenehmigungen für kirchliche Publikationen zu gewährleisten — unter gewissen Bedingungen. Nach dem Muster der „Polnischen Katholiken“, einer abgesplitterten Sekte, und der „Pax“-Gruppe, einer dem Staat ergebenen Laienorganisation, die bereits schon genannte Privilegien genießen können, soll auch die katholische Kirche zur Kollaboration mit dem Regime bewegt werden. Da die Versuche, durch Gewährung kleiner Erleichterungen die Kirche unter Kontrolle und an die Leine zu legen, bisher mißlungen sind, bekommen die Katholiken zunehmend staatliche Unterdrückungsmaßnahmen zu spüren.

Diese Behinderungen sind mehr oder weniger deutlich spürbar und treten in vielfältigen Formen auf. Beispielsweise in Form von Zensurerteilungen, Druckverbot, überhöhter Steuerlast, Verbot der Seelsorge in Schulen, Krankenhäusern, Gefängnissen und Kasernen, Entzug von Baugenehmigungen für Kirchen, Gemeindezentren und Bibliotheken, Behinderung von Wallfahrten und Prozessionen, besonders auch Einschränkung der Zahl von Laientheologen.

In Polen sind Hirtenbriefe, Predigten und kursierende Schreibmaschi-nendurchschläge die einzigen Möglichkeiten für die Kirche, sich öffentlich und unzensuriert zu äußern. In einem Land, wo sogar Visitenkarten und Todesanzeigen der staatlichen Zensur unterliegen, ist es den wenigen kirchlichen Publikationen nicht gestattet, auch nur andeutungsweise etwa Partei und Regierung zu kritisieren.„Znak“, eine katholische Laienorganisation, die im Unterschied zur

„Pax“-Gruppe eine distanzierte Haltung zur Regierung einnimmt, gibt die „Allgemeine Wochenzeitschrift“ heraus, deren Auflage mit 40.000 begrenzt ist. Auch die beiden von „Znak“ herausgegebenen Monatszeitschriften „Der Bund“ und „Das Zeichen“ erhalten, im Unterschied zu den Kollaborations-Organen von „Pax“, nur ein sehr begrenztes Kontingent an Papier. Vor der Drucklegung müssen alle Zeitungsklischees dem Zensor vorliegen, der völlig unberechenbar ganze Passagen und Artikel streichen kann. Oft genug wird ohne Angabe von Gründen der Druck von Gebetbüchern, katechetischen und theologischen Werken untersagt. Aber Not macht erfinderisch, und was nicht gedruckt werden darf, findet oft auf andere Weise Verbreitung.

Ein anderer Versuch, die Kirche in staatliche Abhängigkeit zu bringen, ist die Steuerpolitik. In Polen wird staatlicherseits eine Kirchensteuer erhoben. Eine Kirchensteuer im umgekehrten Sinn, denn die Kirchengemeinden zahlen, der Staat profitiert. Eine Partei, in deren Grenzen 10.000 Einwohner leben, hat monatlich zehn Prozent der Einwohnerzahl in Zloty zu bezahlen, in diesem Fall also 1000 Zloty. Als Berechnungsgrundlage gilt hierbei nicht die Zahl der Kirchenmitglieder, sondern pauschal die Einwohnerzahl. Kirchliche Investitionen, die nicht in den staatlichen Verwaltungsplänen vorgesehen sind, werden mit bis zu 60 Prozent besteuert.

Diese Politik der Abschnürung und Austrocknung setzt sich fort im Verbot der Seelsorge in Schulen, Krankenhäusern, Gefängnissen und Kasernen, im Verbot des Kirchenneu-baus. Dieses trifft vor allem die neu entstehenden Trabantenstädte in den industriellen Ballungsgebieten. Baugenehmigungen werden — bis auf wenige Ausnahmen — nicht erteilt. Eine dieser Ausnahmen bildet die seit 1966 im Bau befindliche Kirche in Nowa Huta, einer Vorstadt von Krakau. Die Behörden behindern den Baufortgang sehr nachhaltig: Eine Baufirma mit den entsprechenden, technischen Hilfsmitteln durfte nicht eingesetzt werden, die Baumaterialien müssen größtenteils vom Schwarzmarkt beschafft werden. So entsteht in mühevoller Klein- und Handarbeit und unter Mithilfe freiwilliger Helfer ein moderner Kirchenbau, der jedoch erst 1975 fertiggestellt sein wird. Bis dahin finden die Gottesdienste der Pfarrei, zu der 80.000 Gläubige gehören, unter freiem Himmel statt — zum Leidwesen der Sicherheitsorgane jedesmal eine eindrucksvolle Demonstration.

Die polnische Kirche hat sich bisher mit Entschiedenheit, Geschicklichkeit und nicht ohne Erfolg gegen die Maulkorb- und Gängelbandpolitik des Staates zur Wehr gesetzt. Aber mit der außenpolitischen „Entspannung“ hat sich auch in Polen der innenpolitische Druck verstärkt, hat der Staat eine Ideologisierungs- und Abgrenzungskampagne entfesselt, die sich vor allem in den neuerlichen Schulreformplänen dokumentiert. Ob es der Kirche gelingt, den kulturkämpferischen Plänen und Aktionen des Regimes erfolgreich zu widerstehen, ist nicht gewiß. Die polnischen Katholiken bringen jedoch genügend Solidarität auf, sich nicht ins Ghetto schicken zu lassen. Hilfe aus dem Westen könnte ihnen hierbei den Rücken stärken.

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