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NICHT MEHR AUS DEN KOFFERN LEBEN

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Österreichs Juden sind in den Israelitischen Kultusgemeinden registriert, die größte, die Kultusgemeinde in Wien, hat derzeit etwa 7.300 Mitglieder. Mittlerweile leben aber 5.000 bis 6.000 Juden in Wien, die keinen Kontakt zur Kultusgemeinde haben. „Vor allem aus der ehemaligen Sowjetunion kommen Juden, die Distanz zu Institutionen vorziehen", sagt Avsha-lom Hodik, der Amtsdirektor der Kultusgemeinde.

Zur Wiener Kultusgemeinde gehören Niederösterreich und das nördliche Burgenland. Vier weitere Kultusgemeinden existieren noch in Österreich, keine hat mehr als etwa 100 Mitglieder: in Graz (für Steiermark, Kärnten und das südliche Burgenland), in Linz (für Oberösterreich), in Salzburg(für Salzburg) und in Innsbruck(für Tirol und Vorarlberg).-Ein alle vier Jahre demokratisch gewählter Kultusvorstand ist das Entscheidungsgremium. Unter seinen 26 Mitgliedern sind derzeit vier Frauen. Innerhalb der Wiener Kultusgemeinde existieren politisch oder religiös verschieden ausgerichtete Gruppierungen, die in etwa der Parteien-landschaft in Israel entsprechen. Etwa ein Viertel der Gemeinde ist dem orthodoxen Flügel zuzurechnen. In erster Linie repräsentieren Präsident und Oberrabbiner die Kultusgemeinde nach außen.

Aufgabe einer Kultusgemeinde ist es vor allem, die Voraussetzungen für das religiöse Leben zu schaffen: Synagogen, rituelle Tauchbäder für die Frauen, koschere Lebensmittelläden, eigene Schächtereien, Heranbildung der Jugend.Die Wiener Kultusgemeinde erhält Kindergärten, Schulen mit Öffentlichkeitsrecht (Zwi Pe-rez Chajes-Gymnasium, eine Hauptschule mit zusätzlicher Handwerksausbildung), drei Talmud Torah-Schulen zur religiösen Unterweisung.

Zu den sozialen Aktivitäten zählen das Altersheim „Maimonides-Zen-trum" mit einer speziellen Geriatrieabteilung und vier Sozialarbeiterinnen für die Integration der Zuwanderen „Mitte der siebziger Jahre wurden viele vorher auswanderungswillige Juden in Wien seßhaft, wollten nicht mehr aus den Koffern leben", sagt Hodik, „damit begann eine neue Phase von Aktivitäten fürdie Kultusgemeinde." Auch die Sorge für insgesamt 40 Friedhöfe (fünf davon in Wien) obliegt der Wiener Kultusgemeinde. Vorträge, Diskussionen und kulturelle Veranstaltungen kommen dazu.

Zur Finanzierung all dessen wird je nach Einkommen oder Vermögen eine Kultussteuer eingehoben, „mit deren Einhebung wir ebensolche Schwierigkeiten haben wie die katholische Kirche mit dem Kirchenbeitrag", führt Amtsdirektor Hodik aus. Außerdem besitzt die Kultusgemeinde selbst Vermögen (aus Verlassenschaften), erhält seit 1953 Reparationszahlungen des Staates und jeweils projektbezogene Subventionen, für den Zubau des Zwi Perez Chajes-Gymna-siums etwa.

Eine eigene, von der Kultusgemeinde unabhängige Einrichtung stellt das „Jewish Welcome Service" dar, das vor allem ehemaligen österreichischen Juden die Möglichkeit zur Wiederbegegnung mit der früheren Heimat bietet. Auf Einladung der Stadt Wien haben sie Gelegenheit, die Stadt anders als in den Jahren 1938 bis 1945 zu erleben, sagt Leon Zelman, Leiter des „Jewish Welcome Service": „Wegen der illusionistischen Verklärung der Kind-heits- und Jugenderinnerungen kommt es dabei immer wieder zu sehr berührenden Begegnungen". Aufklärung über den Holocaust in den Schulen, Veranstaltungen für Lehrer und neuerdings Hilfestellung für jüdische Gemeinden im Osten sind weitere Aktivitäten.

Die Moskauer Deklaration des Jahres 1943, die Österreich als Opfer des Nationalsozialismus anerkannte und damit aber jegliche Mitverantwortung leugnete, bildete die Grundlage dafür, daß eine kritische Reflexion der Österreicher über ihren Anteil an der Schuld des NS-Regimes verhindert wurde.

Die 1948 erfolgte Amnestie der 450.000 „Minderbelasteten" NSDAP-Mitglieder, die künftig ein höchst umworbenes Wählerpotential darstellten, ging in dieselbe Richtung. Gemeinsam mit dem bald nach Kriegsende wiederaufflammenden Antisemitismus, dessen Ungebrochenheit die Ereignisse um Bundespräsident Kurt Waldheim für viele Juden spürbar machten, trug und trägt dies dazu bei, daß viele Juden in Österreich anders leben als Nicht-Juden.

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