6806474-1972_10_04.jpg
Digital In Arbeit

„Nicht nur Beschäftigungstherapie“

19451960198020002020

Eine Industriegesellschaft, die geneigt ist, Vollbeschäftigung und Wirtschaftswachstum als oberste und einzige Maxime zu betrachten, Wohlstandsmehrung und Konsum als Librium schätzt und im übrigen Politiker als zumindest potentielle Kor-ruptionisten katalogisiert, beginnt sich von lieb- (und schal-) gewordenen Klischees zu trennen: Das Jahr 1972 ist nicht nur nach dem Wunsch des großen Vorsitzenden Kreisky ein Jahr der Programmdiskussion.

19451960198020002020

Eine Industriegesellschaft, die geneigt ist, Vollbeschäftigung und Wirtschaftswachstum als oberste und einzige Maxime zu betrachten, Wohlstandsmehrung und Konsum als Librium schätzt und im übrigen Politiker als zumindest potentielle Kor-ruptionisten katalogisiert, beginnt sich von lieb- (und schal-) gewordenen Klischees zu trennen: Das Jahr 1972 ist nicht nur nach dem Wunsch des großen Vorsitzenden Kreisky ein Jahr der Programmdiskussion.

Werbung
Werbung
Werbung

Nachdem der Ruf nach zielorientierten sachbezogenen und vor allem unheimlich austauschbaren Experten, nach Technokraten verhallt ist, beginnt man den Stellenwert des Grundsätzlichen in der Politik zu durchdenken, den ideologischen Standpunkt neu zu fixieren. Auf die ÖVP angewendet: Nach der Partei landete nun auch das geltende Programm, das Klagenfurter Manifest, im Trockendock. Oder positiv formuliert: Die Ideologiediskussion ist „angewandtes Trockendock“: „Eine Volkspartei, deren Struktur eine Widerspiegelung der gesellschaftlichen Struktur darstellen will und die daher gesellschaftliche Gruppen mit sehr verschiedenen Interessen umschließt, kann deren einander oft diametral entgegengesetzte Bestrebungen nur dann ausgleichen und zu gemeinsamem politischen Handeln koordinieren, wenn gemeinsame Überzeugungen, gemeinsame Wertvorstellungen, gemeinsame Zukunftserwartungen vorhanden sind, die so stark sein müssen, daß sie die widersprüchlichen Interessen zu überbrücken vermögen.“ Dr. H. Christoph Günzl, Ehrenobmann der Wiener Landesgruppe des Akademikerbundes und seit vielen Jahren engagierter Kämpfer für Grundsatzfragen in der Politik, motiviert so die Notwendigkeit der Programmdiskussion, die Voraussetzungen für das Überleben der Volkspartei in einer Welt, die sich permanent wandelt. Denn: „Die neuen Wirklichkeiten dm wirtschaftlichen, im politischen, im gesellschaftlichen und im geistigen Bereich fordern neuartige Antworten heraus.“

Nun, die Programmdiskussion der ÖVP hat sich demnach gut angelassen, man ist dabei, die neuen Antworten zu geben: Der erste Entwurf „Das Österreich von morgen — Modell für eine bessere Welt“ wird allenthalben arg zerzaust, viele als Aufputz gedachte bunte Federn werden ausgerupft, kurz: man gerät sich in die Haare und ist produktiv dabei.

Viele wollen nur manches anders akzentuiert sehen: Heribert Steinbauer etwa lastet dem Entwurf an, er atme über weite Strecken den

Geist eines Programms, das „jedem Leben Sinn und Ziel sein will“ und kaschiere das Bestehen gesellschaftlicher Konflikte. Gerade diese Kon-ftiktstruktur müsse schärfer herausgearbeitet werden, um den programmatischen Sprung von Theorie zu Praxis zu schaffen, um ein verwirklichbares Programm zu gebären. Der Generalsekretär Dr. Kohlmaier wieder will die Frage beantwortet haben, „wie die Gesellschaft stärker zur Anteilnahme am politischen Geschehen bewegt werden kann“ und meint: „Unser Grundsatzprogramm wird sich deshalb mit allem befassen müssen, was einen Anreiz für politisches Engagement und politisches Bekenntnis in einer konsumorientierten Gesellschaft gibt.“ Und immer wieder als oberstes Prinzip christlicher Politik „das Prinzip der Partnerschaft“, das sich als Integration verschiedener Gruppen — bei voller Wahrung deren Eigenständigkeit — definiert.

Im Entwurf klingt die Abgrenzung und das Selbstverständnis der ÖVP so: „Aus dem Ernstnehmen jedes einzelnen Menschen leitet die österreichische Volkspartei die Notwendigkeit ab, die Grundsätze eigenverantwortlicher Entscheidungen und partnerschaftlicher Zusammenarbeit in Einklang zu bringen. Die österreichische Volkspartei versteht sich somit als eine der Freiheit der Person und der partnerschaftlichen Gesellschaft verpflichtete Partei der fortschrittlichen Mitte.“ Der Verfassungsrechtler Manfried Welan wieder versteht die ÖVP als

„Motor der Demokratie“ und deponiert: „Die in der österreichischen Volkspartei vereinigten christlichen Demokraten Österreichs streben eine Gesellschaft an, die ein Höchstmaß an persönlicher Entfaltung, sozialer Gerechtigkeit und wirtschaftlicher Entwicklung ermöglicht. Diese Gesellschaft ist die partnerschaftliche Demokratie.“ Und weiter: „Vor allem aber ist diese Gesellschaft offen für künftige Entwicklungen. Sie verwirklicht einen neuen Frieden durch gewaltfreie Konfliktlösung. In ihren geistigen Zielsetzungen reicht die parfcnerschaftliche Demokratie als reale Utopie weit in die Zukunft, in ihrem politischen Handeln steht sie auf dem Boden der Tatsachen.“

Abseits jeder Detailkritik und auch jeder Tendenzschelte brechen drei Fragen ganz vehement auf: Was ist christlich, was konservativ und was liberal im ÖVP-Programm? — um die Fragestellung der Monatsschrift „Politische Perspektiven“, der Zeitung des Akademikerbundes, zu übernehmen. Der ehemalige Staatssekretär Heinrich Neisser skizziert die „Distanzierung der Kirche von den Parteien, die mit der Entideolo-gisierung der Parteien synchron geht“ und stellt fest: „Soll mit dem ,Christlichen' nur ein Paravent für eine ideologische Ratlosigkeit oder einen überholten Konservativismus geschaffen werden, ist ein solches Bekenntnis ohne Wert.“ Aus liberaler Sicht besehen ist der Programmentwurf eine Anhäufung von Worthülsen: „In summa: Dieses Grundsatzprogramm strotzt von liberalen Begriffen und Ansichten, wirkt deswegen auf den Liberalen nicht attraktiv, weil sich die ÖVP schon bisher zu ihnen bekannt hat, ohne das geringste zu ihrer Verwirklichung zu tun“, — so Karl Jelusic. Und pointiert der konservative Publizist Herbert Eisenreich: „Es gälte vielmehr, eben jetzt, da Reaktion und Restauration sich öffentlich blamieren, ein Konzept der Menschlichkeit und des Fortschritts zu präsentieren, und das heißt: den christlich-sozialen Ballast links und den liberalistischen Ballast rechts über Bord zu werfen, damit das konservative Flaggschiff endlich wieder mit voller Kraft voraus in die stürmische See des politischen Kampfes stechen kann.“

Alles in allem genommen zeigt sich bei der Grundsatzdebatte die Schwierigkeit, sich zu konzentrieren. Und noch etwas: Daß Grundsatzfragen doch mehr sind als eine Beschäftigungstherapie für Honoratioren, die von der Zeit überrollt zu werden drohen.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung