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Nicht nur die Liberalen

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„Steht es möglicherweise so, daß er (der Liberalismus), weit entfernt, ein bloßes Opfer der Gesellschaftskrise zu sein, durch seine Irrtümer zu ihrer Entstehung beigetragen hat?“ (Wilhelm Röpke, Maß und Mitte, Zürich 1950, Seite 14.) „Die Tatsache, daß Marx' Erwartung, der Sozialismus werde in den fortgeschrittenen Industriestaaten siegen, nicht in Erfüllung gegangen ist, lädt Anhänger und Gegner des Sozialismus zur Stellungnahme ein.“ (Norbert Leser, Die Odyssee des Marxismus, Wien .1971, Seite 9.) „Die Funktion der Kybernetik als Integrationswissenschaft verführt dazu, sie auch in philosophische Überlegungen, Begründungen und Rechtfertigungstheorien einzubeziehen. Damit verfällt sie zugleich dem Ideologieverdacht.“ (Staatslexikon, Freiburg 1970, 10. Band.)

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„Steht es möglicherweise so, daß er (der Liberalismus), weit entfernt, ein bloßes Opfer der Gesellschaftskrise zu sein, durch seine Irrtümer zu ihrer Entstehung beigetragen hat?“ (Wilhelm Röpke, Maß und Mitte, Zürich 1950, Seite 14.) „Die Tatsache, daß Marx' Erwartung, der Sozialismus werde in den fortgeschrittenen Industriestaaten siegen, nicht in Erfüllung gegangen ist, lädt Anhänger und Gegner des Sozialismus zur Stellungnahme ein.“ (Norbert Leser, Die Odyssee des Marxismus, Wien .1971, Seite 9.) „Die Funktion der Kybernetik als Integrationswissenschaft verführt dazu, sie auch in philosophische Überlegungen, Begründungen und Rechtfertigungstheorien einzubeziehen. Damit verfällt sie zugleich dem Ideologieverdacht.“ (Staatslexikon, Freiburg 1970, 10. Band.)

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Liberalismus, Sozialismus und Technokratie, die drei großen Denkrichtungen, mit denen das 19. Jahrhundert noch in unserer Zeit präsent ist, entsprechen wissenschaftlichen Grundanschauungen, die überholt sind. Sie stammen aus dem Weltbild, wie es im Umkreis von Pierre Simon Laplace (1749 bis 1826) entstanden ist. Damals schien es, als würden die Gesetze der Wissenschaft eine geradezu absolute Gültigkeit haben. Man rechnete damit, daß es im Laufe der Zeit der Wissenschaft möglich sein werde, für „alles“ eine rationale Erklärung zu finden. Laplace selbst glaubte, die ganze Zukunft zu erfahren,' sobald er Ort und Geschwindigkeit eines jeden Teilchens des Universums wisse und hinreichend rechnen könne. Der Determinismus, immer noch von gewissen ideologischen Spekulationen umwittert, sollte sich von derlei Anachronismen befreien und zufolge der Präzision wissenschaftlicher Gesetzmäßigkeiten eine quasi „unentrinnbare Realität“ aufzeigen.

Der Positivismus im Anschluß an Auguste Comte (t 1857) glaubte das Programm einer „sozialen Physik“ erfassen zu können, weil er (ohne auf empirische Erkenntnisse zu warten) annahm, daß auch die sozialen Erscheinungen „wirklichen Naturgesetzen“ unterliegen würden. In unserer Zeit reicht die Nachwirkung des Positivismus so weit, daß nach dem von ihm entwickelten Wissenschaftsbegriff Probleme, die mit den Methoden der Naturwissenschaft nicht erfaßt werden können, irrelevant sind; weil sie nur „Schemprobleme“ und in letzter Konsequenz überhaupt nicht existierend sind. Die Theologie, die Philosophie und eine Serie von Geisteswissenschaften wurden nach vorherrschenden Meinungen zu „Halbwissenschaften“ degradiert oder in ihrer theoretischen Relevanz grundsätzlich bestritten. Die Hochschulreform wurde auf diesen Wissenschaftsbegriff abgestellt und für das übrige Schulwesen sollen Programme in Kraft gesetzt werden, deren Lehrpläne, Fächer- und Stoffverteilung zu zwei Dritteln auf die mathematisierenden Wissenschaften ausgerichtet sind. Nach den Absichten der Technokraten und Kybernetiker geriet auch die „Verwissenschaftlichung des Politischen“ in diesen Mahlstrom, der in der Ära Laplace unter anderem im Denken Saint Simons entsprang.

Der wissenschaftliche Absolutismus des 19. Jahrhunderts hat vor allem im Anschluß an Marx und im ganzen Umkreis des heutigen Sozialismus grundsätzliche Bedeutung behalten. Nicht nur der Kommunismus ist bei den Thesen von einem unerbittlichen Ablauf der Geschichte und von einem „wissenschaftlichen Planen“ der Gesellschaft verblieben. In der Marx-Renaissance, die während der abgelaufenen sechziger Jahre in der freien Welt des Westens stattfand, geschah der bewußte Rückgriff auf solche „Gesetzmäßigkeiten“. In einem „christlich-progressiven“ Denken mischte sich eine verballhornte Theologie mit marxistischen Denkformeln, wie sie zum Beispiel Ernst Bloch reproduzierte. Die liberal umgemodelten Programme nationalfreisinniger Bewegungen' rezipieren die Neue Sprache der Neuen Linken als Füllsel für ideologische Vakua (Hinweis: Programmentwurf der FPÖ).

Die Kybernetik ist am Rand eines „technotronischen Zeitalters“ (so: Zbigniew Brzezinski, Columbia Uni-versity, New York) angelangt, ohne jene Grenze zu realisieren, an der Werner Heisenberg und andere schon einen „Abschluß der Physik“ für möglich halten. Denn: man wird nicht mehr alles machen dürfen, was man technisch machen könnte. Andere Begriffsbildungen als jene, die in der Physik zur Anwendung gelangten, bekommen in solchen Denkvorstellungen erneut theoretische Relevanz. Es wird in Zukunft manchmal schwierig werden, zu unterscheiden, ob es sich „bei einem Vordringen der Wissenschaft um einen Fortschritt der Physik handelt oder ... der Philosophie“.

Ein seltsamer Aspekt der Quantenmechanik wird als Unscharf er ela-tion bezeichnet: bei dem Versuch, den genauen Ort eines Teilchens zu bestimmen, mißlingt die genaue Aussage darüber, wie schnell und in welcher Richtung es sich bewegt. Oder: wenn man seine Geschwindigkeit bestimmen kann, wird es niemals möglich, genau seinen Ort anzugeben. Das aber heißt: das im Anschluß an Laplace entstandene Weltbild und die daraus abgeleiteten Ideologien des frühen 19. Jahrhunderts sind falsch. Laplace würde es heute genauso gehen wie es Einstein (t 1955) erging, der sich mit dem Zufall, der im Indeterminismus aufgezeigt wurde, zeitlebens nicht mehr abfinden konnte. Die Physik des 20. Jahrhunderts hat das menschliche Denken von dem traditionellen Determinismus des 19. Jahrhunderts weggelenikt auf eine Welt, in der der Zufall eine bedeutsame Rolle spielt. Der intuitive Einwand Albert Einsteins: Der Herrgott würfelt nicht, offenbart das Dilemma des ungläubigen Intellektuellen.

Hinterlassenschaft des 19. Jahrhunderts und früherer Epochen ist jener naiv-rationalistische Atheismus, wonach der Unterschied zwisehen Religion und Wissenschaft angeblich in der „Tatsache“ bestehen soll, derzufolge es der Wissenschaft jeweils gelingt, ihre Aussagen „wirklich zu beweisen“, wöhrend die Religion auf den Glaube«, die Offenbarung und derlei angewiesen: sein soll. Diese Vorstellung hält in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Ansprüche eines wissenschaftlichen Absolutismus aufrecht, der, wie aufgezeigt, unhaltbar geworden ist. Anderseits ist die „Notwendigkeit des Glaubens in der Wissenschaft“ heute in „jedem Wissenschaftler so tief verwurzelt, daß die meisten von uns nicht einmal innehalten, um daran zu denken, daß er überhaupt da ist“ (Charles H. Townes, MIT, Nobelpreis 1964, in IBM Magazine, 1966). Indessen: es gibt Wissenschaftler, die innehalten, die angesichts der rational nicht formulierbaren einheitlichen Ordnung des Kosmos gewohnte Denkgleise verlassen, um auf neuen Wegen dem Verständnis der einheitlichen Struktur der Welt näherzukommen.

Der aus Wien gebürtige Nobelpreisträger Wolfgang Pauli (f 1958) kommt in seinem Ringen um das

„Eine“ zur Auseinandersetzung mit dem Gottesbegriff. Pauli geht nicht die itio in partes zurück ins 17. Jahrhundert. Er verwirft die in diesem Jahrhundert entstandene Einteilung des menschlichen Geistes in jene „getrennten Departemente“, die das rationale Verstehen in einen vulgären Atheismus abdrängte.

Der Physiker reflektiert auf die Einsicht des modernen Menschen, der die Auswirkung der Thesen des Neoliberalismus und Neomarxismus erlebt, wonach das Leben ohne Sinn verlaufe; der kompensatorische Bilder sucht, um anstatt der „Lebensleere“ eine asymptotische Annäherung der Grenzpaare Wissen-Glauben zu finden. Pauli stand am Ende seines Lebens dort, wo ungefähr gleichzeitig Leszek Kolakowski, Philosoph, Kommunist, Pole, um 1960 angelangt war: das Gefühl der Lebensleere provoziert die Frage nach dem Sinn des Lebens und die „Gefahr“ einer irrationalen Befriedigung in der Form religiösen Denkens. Das war der Punkt, an dem Lenin schon um 1910 mit einer herrischen Geste die Gottsucher und Gotterbauer Anatolij V. Lunatschar-skij und Maxim Gorki auf den Weg seiner Orthodoxie verwies, der er selbst sehr bald nicht mehr trauen sollte, als er die Folgen der neuen Erkenntnisse der Naturwissenschaft gewahr wurde.

• Friedrich Funder hat zu seiner Zeit die Kavalkade der Ideologien erlebt, die von den großen Irrtümern des 19. Jahrhunderts entlassen worden sind. Zu seiner Zeit waren sie noch nicht angekränkelt von den Folgen der heutigen Spätkrisen des Liberalismus, des Sozialismus und aller jener Ismen, die den falschen Pluralismus der freien Welt des Westens zelebrieren. Zu seiner Zeit waren sie: virulent, unduldsam und totalitär in ihren Anmaßungen. 100 Jahre nach der Geburt Friedrich Funders grüßen wir sein Grab nicht mit einem hitlerischen „Und wir haben dennoch gesiegt!“, sondern in dem Bewußtsein:

• Die Wissenschaftler sind inzwischen vorsichtiger und bescheidener geworden.

• Sie wissen heute, daß selbst die ausgeklügeltsten Theorien immer noch urnvollständig sind.

• Sie bewegen sich in einem Gelände, in dem der Glaube evident ist.

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