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Nicht nur eine feurige Rhetorik

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Wenn Lane Kirkland, der Präsident des amerikanischen Gewerkschaftsbundes, spricht, erhebt sich hinter ihm das Sternenbanner. Nicht nur innenpolitisch sind die Arbeitnehmervertreter eine der mächtigsten Lobbies.

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Wenn Lane Kirkland, der Präsident des amerikanischen Gewerkschaftsbundes, spricht, erhebt sich hinter ihm das Sternenbanner. Nicht nur innenpolitisch sind die Arbeitnehmervertreter eine der mächtigsten Lobbies.

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Seit der deutsche Nationalökonom und Soziologe Werner Som-bart 1906 über Eindrücke aus Amerika berichtete, ist die Meinung weit verbreitet, die amerikanischen Gewerkschaften seien ganz auf die soziale und wirtschaftliche Besserstellung der Arbeiter ausgerichtet. Diese Vorstellung ist unrichtig.

Die Gewerkschaften haben eine Ideologie - wenn man ihre Geisteshaltung als Ideologie bezeichnen will —, nämlich die der freiheitlichen Demokratie. Sie treten energisch für die Bürgerrechte im Inland und die Menschenrechte im Ausland ein. Autoritäre und totalitäre Regime sowohl der Rechten als auch der Linken werden mit Vehemenz abgelehnt.

Die wichtigste Vertretung der Gewerkschaften ist die American Federation of Labor and Congress of Industrial Organizations (AFL-CIO), der Dachverband von 96 Gewerkschaften mit 13,7 Millionen Mitgliedern (siehe Kasten). Die AFL-CIO ist eine der mächtigsten LorJbies in Washington. Wenn der Präsident Lane Kirkland spricht, erhebt sich hinter ihm das Sternenbanner — wie beim Präsidenten der Vereinigten Staaten.

Ihm war es auch gelungen, während des Wahlkampfes um das Präsidentenamt fast die Gesamtheit der AFL-CIO für die Unterstützung des demokratischen Bewerbers und Gegenspielers Ronald Reagans, Walter F. Mondale, schon in der Phase der Ausscheidung zu gewinnen. Trotzdem wurde Ronald Reagan zum zweiten Mal zum Präsidenten gewählt.

Er war während mehrerer Jahre Vorsitzender der Gewerkschaft der Filmschauspieler gewesen, die der Dachorganisation AFL-CIO angehört. Damals hatte Reagan, wie andere Gewerkschaftsführer auch, bittere Gefechte gegen die Kommunisten ausgetragen, welche die Leitung seiner und anderer Gewerkschaften an sich zu reißen suchten, obwohl sie nur eine Minderheit der Mitglieder vertraten. Reagans Antikom-munismus hat sich in diesen Auseinandersetzungen entwickelt. Seine frühere Gewerkschaft hat jetzt unter der Führung von Ed Asner einen Linkskurs eingeschlagen, der sich vor allem in ihrer Unterstützung für das sandi-nistische Regime in Nikaragua äußert.

Reagans Beziehungen zu den Gewerkschaften lassen allerdings zu wünschen übrig. Nicht zuletzt, weil er allzu lange an seinem Ar-beitsmiriister Raymond Donovan festhielt, der im März zurückgetreten ist, nachdem gegen ihn -nach anderen Untersuchungen — ein Strafverfahren wegen Betrügereien eröffnet worden ist.

Gerade in den Wahlen zeigte sich einmal mehr, daß die Gewerkschaftsbewegung kein Monolith ist. Die Empfehlungen des Dachverbandes können weder gegen die Einzelgewerkschaften noch gegen ihre Mitglieder durchgesetzt werden. Aber der Gewerkschaftsbund und seine Mitglieder mobilisieren Millionen von Dollars für die von ihnen bevorzugten Kandidaten, verschicken Werbematerial, telefonieren an alle in ihren Computern aufgespeicherten Adressen, sorgen für den Transport der Wähler in die Wahllokale und sogar für Babvsitter während ihrer Abwesenheit.

Die außenpolitische Einstellung des Gewerkschaftspräsidenten geht aus einer Bemerkung in einem Interview für den „U. S. News & World Report” im Mai 1982 hervor. Kirkland: „Nach allen objektiven Maßstäben ist diese (Reagan's Red.) Administration weicher gegenüber der Sowjetunion als die Administration Carter.” Das war keineswegs als Kompliment für Carter gemeint, sondern als abschätziges Urteil gegenüber Reagan, der es unterließ, Polen wegen der Nichtbezahlung der Anleihenzinsen in Verzug zu erklären und ein totales Embargo gegen die Sowjetunion zu verhängen, um die polnische „Solidarität” zu retten. Die AFL-CIO unterstützt diese nach Möglichkeit, und zwar nicht nur publizistisch. Sie hat 1975 Solschenizyn eingeladen, eine Ansprache zu halten, während Präsident Ford auf Anraten Henry Kissingers zur Wahrung der Detente den Russen nicht im Weißen Haus empfing.

Aus dem Internationalen Bund Freier Gewerkschaften trat die Dachorganisation der amerikanischen Gewerkschaften aus, als westeuropäische Gewerkschaften auf Beziehungen zu den Kommunisten drängten. Lane Kirklands Vorgänger George Meany sah darin einen ersten Schritt zur Rechtfertigung der Unterwerfung der osteuropäischen Gewerkschaften durch Partei und Staat. 1981 trat die AFL-CIO dem Internationalen Bund Freier Gewerkschaften wieder bei.

Den meisten amerikanischen Gewerkschaftsführern erscheint schleierhaft, was die westeuropäischen Arbeitervertreter durch Kontakte mit den Beamten der kommunistischen Pseudoge-werkschaften gewinnen wollen.

Es gibt allerdings auch Ausnahmen, wie z. B. William Winpisin-ger, Präsident der Maschinistengewerkschaft, der sich als Sozialist bezeichnet und auch beim damaligen Staatschef Andropow vorsprach.

Lane Kirkland war zusammen mit Paul Nitze (Sonderberater des amerikanischen Präsidenten für Fragen der Rüstungskontrolle, Red.) und Eugene Rostow (ehemaliger Direktor des Amtes für Rüstungskontrolle und Abrüstung, Red.) der Gründer eines Komitees, welches gegen die Ratifikation von SALT II, für die Konstruktion der Interkontinen-talmissües MX und die Aufrüstung im allgemeinen auftrat und vor Moskau warnte.

Die AFL-CIO hat sich immer für eine starke Rüstung eingesetzt. Sie stimmt jetzt im Prinzip einer Steigerung der Verteidigungsausgaben um fünf Prozent zu, über den Inflationszuwachs hinaus. Die Ausgaben sollen jedoch durch Steuern gedeckt werden, damit das Budgetdefizit verringert würde.

Auch die amerikanischen Gewerkschaften ringen mit den Problemen der wirtschaftlichen Strukturveränderung. 60 Prozent aller Arbeitnehmer sind in Unternehmungen mit weniger als fünfzig Beschäftigten angestellt. Dort läßt sich eine gewerkschaftliche Organisation schwerer verwirklichen. Viele Industrien sind aus dem Nordosten und Mittleren Westen in den Sonnengürtel im Süden abgezogen, wo die Gewerkschaften seit jeher auf Widerstand stießen.

Außerdem klagen die Gewerkschaftsführer über einen zunehmenden Widerstand der Unternehmer gegen das Auftreten von Gewerkschaftsorganisatoren in ihren Betrieben.

Die Gewerkschaften haben auch nicht jederzeit eine fortschrittliche Haltung eingenommen. Die Dockarbeiter wehrten sich z. B. lange gegen die Verwendung von Containern zum Verladen von Gütern. Noch am 9. Februar 1983 schlug Kirkland ein Arbeitsbeschaffungs- und Anti-rezessionsprogramm vor, das den Bund 1984 rund 46 Milliarden Dollar gekostet hätte. Inzwischen ist die Rezession verschwunden, und die Arbeitslosigkeit nimmt ab. Die wirtschaftliche Entwicklung hat manche Forderung hinfällig werden lassen.

Das Postulat einer „nationalen Industriepolitik” wird unter Ronald Reagan auch nicht im Sinne der Gewerkschaften verwirklicht werden. Diese Industriepolitik sollte kranke Industrien sanieren, zerfallene Stadtzentren wiederaufbauen, Straßen, Brücken, Häfen reparieren. Reagan schlägt dagegen die Schaffung von „en-terprise zones” (Gebiete mit Unternehmungsgeist) vor.

Eine Gewerkschaftskommission hat einen umfangreichen Bericht über die sich verändernde Situation der Arbeiter und Gewerkschaften ausgearbeitet, mit Vorschlägen, wie die Gewerkschaft neu gestärkt werden könnte. Sie konstatierte, daß „die Gewerkschaften hinter dem Tempo der Wandlungen zurückgeblieben sind” und legte eine Reihe von Vorschlägen vor, wie die Organisationsarbeit verbessert und auf weitere Arbeitskreise ausgedehnt werden könnte.

Der Autor ist pensionierter Amerika-Korrespondent der Neuen Zürcher Zeitung und Professor für Geschichte in Detroit. Der Beitrag ist die gekürzte und redaktionell bearbeitete Fassung eines Kommentares in der Mai-Ausgabe der Schweizerischen Monatshefte.

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