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Nicht nur Gewaltenteilung — auch Machtteilung

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Die parlamentarische Demokratie hat zwei große Gefahrenquellen: die Demokratie und das Parlament (die Parlamentarier). Die Demokratie erlaubt es jedem, sie in Frage zu stellen und sogar zu bekämpfen, wenn er sich -rauch nur im entferntesten

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Die parlamentarische Demokratie hat zwei große Gefahrenquellen: die Demokratie und das Parlament (die Parlamentarier). Die Demokratie erlaubt es jedem, sie in Frage zu stellen und sogar zu bekämpfen, wenn er sich -rauch nur im entferntesten

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— demokratischer Methoden bedient. Und das Parlament ist immer der Versuchung ausgesetzt, im Widerspruch der Meinungen die Problemlösung zu blockieren. Damit entsteht Unbehagen. Der Bürger betrachtet dann die Demokratie nur noch als das kleinere Übel. Die repräsentative Demokratie muß sich darum so darstellen, daß sich der Bürger mit seiner Vertretung in Regierung und Parlament identifizieren kann.

Die parlamentarische Demokratie hat ein Grundprinzip und viele Gesichter. Das kommt auch in unserer Bundesverfassung zum Ausdruck. Sie ist kein Prokrustesbett, sondern ein Rahmen

— ein Rahmen, der nicht durchbrochen werden darf, in dessen Begrenzung aber Raum ist für Ideen und Varianten. Sie bietet Spielraum, denn nichts ist einer demokratischen Ordnung abträglicher als Erstarrung. So entspricht diesem System sowohl die Einpartei-, die Mehrparteien- und die Allpartelenregierung, aber auch ein Fachminister- oder Beamtenkabinett. Allerdings bedingt das Schema Einparteiregierung — starke kontrollierende Opposition nach englischem Vorbild — den periodischen Wechsel und damit in aller Regel ein Mehrheitswahlsystem. Es gilt daher, ein mögliches Modell einer Koalitions- oder Konzentrationsregierung zu suchen.

Die parlamentarische Demokratie braucht jedenfalls entscheidungsfähige Organe. Es muß daher auch in einer Mehr- oder Allparteienregierung jederzeit die Aktionsfähigkeit gegeben sein, sie darf nicht durch Abstimmungssperren blok-kiert sein. Damit aber stellt sich das Problem der Einstimmigkeit, oder die Frage nach der Möglichkeit von Mehrheitsentscheidungen.

Unsere Bundesverfassung macht über den Abstimmungsmodus im Ministerrat keine Aussage, aber nach herrschender Ansicht ist Einstimmigkeit erforderlich als „Ausfluß der Ministerverantwortlichkeit“. Hier sei nun eine abweichende Ansicht erlaubt. Ich wage es nicht, Kelsen zu interpretieren, aber auch in Kenntnis des Verfassungsgerichtshoferkenntnisses, mit allem Respekt vor der herrschenden Juristenmeiminff nnH mit allor Ar»Vitnr\cr wi» unserer Bundesverfassung sei doch folgende Überlegung erlaubt: Kelsen hat doch jedenfalls auf ein so wesentliches Moment staatlicher Willensbildung nicht einfach vergessen. (Im heutigen Sprachgebrauch: er hat sich doch dabei etwas gedacht.) Dazu kommt eine höchst beachtliche Analogie. Die Bundesverfassung normiert weder die Zahl der Bundesminister, noch trifft sie eine Aussage über die Art der Zusammensetzung der Bundesregierung. Dem muß ein Motiv zugrunde liegen. Und da darf wohl angenommen werden, daß Kelsen von dem Gedanken ausging, daß die Staatsgewalt in kein Prokrustesbett, in kein Korsett gezwängt werden darf, daß sie flexibel sein muß, der jeweiligen aktuellen Situation angepaßt. (Gehen wir einmal von einem anderen Standpunkt aus: Nehmen wir an, es hätte immer das Mehrheitssystem gegeben und jemand hätte Einstimmigkeit verlangt. Man muß annehmen, daß dieses Verlangen — gerade unter Hinweis auf die nötige Entscheidungsfähigkeit — auf strikte Ablehnung gestoßen wäre. Und es ist schon ein kleines österreichisches Wunder, daß das System einer Koalition mit dem Prinzip der Einstimmigkeit so lange so gut wirksam sein konnte.)

Bleibt also die Frage der Ministerverantwortlichkeit bei Abstimmungen im Kabinett, insbesondere bei der Fassung von Gesetzesbeschlüssen. Und damit die Frage nach dem Wesen der Ministerverantwortlichkeit. Hier besteht eine rechtliche und eine--polrtische Verantwortung. Rechtlich kann der Minister aur Verantwortung gezogen werden durch Anklage beim Verfassungsgerichtshof wegen schuldhafter Rechtsverletzung bei Führung der Amtsee-

Schäfte, politisch wegen seiner allgemeinen politischen Linie mittels eines Mißtrauensvotums im Parlament. Inwiefern sollte nun ein Minister, der bei einer Abstimmung in der Minderheit — und dennoch in der Regierung — bleibt, einer Anklage unterworfen werden? Und wie sollte wegen eines Minderheitsvotums die politische Ministerverantwortlichkeit zum Tragen kommen in Form eines Mißtrauensvotums im Nationalrat mit der zwingenden rechtlichen Wirkung der Amtsenthebung? Da wäre es doch noch wahrscheinlicher, daß ihm seine ihn delegierende Partei das Vertrauen entzieht, wenn er, entgegen der Partei-meinurit öder gar entgegen dem Parteibeschluß, mit der Regierungsmehrheit stimmt.

Damit wäre der Weg offen für Mehrheitsentscheidungen im Ministerrat. Und so sehr im Prinzip übereinstimmende Beschlüsse im Kabinett zu begrüßen wären, so hätte doch auch dieses System seine Vorzüge- Zunächst die Entscheidungsfähigkeit. Denn eine gelegentliche Mehrheitsentscheidung gibt oftmals viel eher ein Spiegelbild der volonte generale als prinzipiell einstimmige Beschlüsse. Eine weitere Folge könnte die immer so sehr herbeigewünschte Aufwertung des Parlaments sein. Denn bei Mehrheitsentscheidungen im Ministerrat bliebe der Nationalrat die echte Entscheidungsinstanz. Darüber hinaus bliebe dem parlamentarischen Instrument des Initiativantrages größerer Spielraum. Denn der Partei jenes Begierungsmitglieds, das mit seiner Vorlage im Ministerrat nicht durchkommt, steht es frei, den Gesetzesentwurf als Initiativantrag einzubringen. Und schließlich käme dieses System auch dem Informationsbedürfnis entgegen, weil die Verhandlungen im Kabinett ja nicht öffentlich sind, der parlamentarische Ent-scheidungsprozeß aber sich, über weite Strecken vor aller Öffentlichkeit abspielt.

Die parlamentarische Demokratie muß bei jedem Begierungssystem die Kontrolle sicherstellen. Nach der gängigen Meinung garantiere nur eine starke Opposition eine wirksame Kontrolle. Die Praxis hat aber gezeigt, daß die Gewaltenteilung in der heutigen Form nicht dem klassischen System entspricht, sondern in gewissem Maße auf einer Fiktion basiert. Das Axiom Le pouvoir arrete le pouvoir ist längst nicht in seiner reinen Form verwirklicht. Denn einmal leidet die Opposition an einem Informationsmanko, sie ist der Regierung bei der Materialbeschaffung eindeutig unterlegen. Vor allem aber stehen einander nicht drei homogene Blöcke gegenüber, es ist nicht die Polarität Exekutive— Legislative gegeben. Da eine Einparteienregierung in der Regel von der Mehrheit des Parlaments getragen ist, wird sie auch von dieser gestützt. Überspitzt könnte man sogar so formulieren: Je stärker die Opposition, desto geringer die Kontrolle. Denn in der Koalition oder Konzentration kontrolliert jeweils die eine Regierungspartei die Domäne der anderen, während bei der Einparteiregierung die Opposition das halbe Parlament, die ganze Kontrollfunktion ausübt, die Regierungsmehrheit aber die Regierung abschirmt und unter Umständen die Kontrolle behindert (Ablehnung von Untersuchungsausschüssen, Niederstimmen von Resolutionen.) Die Einparteiregierung wird also von der Mehrheit des Parlaments nicht im

üblichen Sinne kontrolliert,'sondern, im Gegenteil, verteidigt und entlastet Aus einer Kontrollinstanz wird eine Schutzmacht der Regierung. (Denken wir nur einmal — um die Situation an einem Beispiel zu beleuchten — an die Bessorts Landesverteidigung und Äußeres. Es bedarf keiner allzu großen Phantasie, um sich vorzustellen, wie anders die parlamentarischen Debatten verlaufen wären, hätten etwa der Verteidi-gungs- und der Außenminister nicht einer SP-, sondern einer VP-Allein-regierung angehört — genau die selben Personen mit genau denselben Handlungen und Enunziationen. Mit welcher Vehemenz wären sie von der SP — die sie heute verteidigt

— angegriffen und von der VP — die sie heute attackiert — in Schutz genommen worden.) Im übrigen kommt es beim Parlament nicht nur auf die Größe der Zahl, sondern durchaus auch auf die Kraft der Persönlichkeit an. Ein Zwerg kann Bärenkräfte haben, ein Biese kann ein Schwächling und Feigling sein.

Als Inhaber der Macht und der staatlichen Machtinstrumente hat heute die Regierung fast immer das Ubergewicht. Und welche Kraft der Macht innewohnt, darüber gibt uns — wie so oft — die Sprache die beste Auskunft Das Wort „Macht“ hört sich noch recht harmlos an. Aber die Sprache kennt die Steigerungsformen: Machttrieb, Machthunger, Machtgier, Machtrausch, Machtstreben, Machtmißbrauch, Machtpolitik. Macht hat ihrem Wesen nach einen natürlichen Expansionstrieb; Macht tendiert zur Ubermacht und Allmacht. Sie trachtet, die anderen in Ohnmacht zu versetzen. Macht muß daher begrenzt, Machtmißbrauch verhindert werden. Und die wirkungsvollste Machtbegrenzung ist nicht die Gewaltenteilung, sondern die Macht-Teilung. Treffend läßt sich das mit einem — abgewandelten — klassischen Zitat ausdrücken: Wohltätig ist des Staates Macht — wenn sie der Mensch bezähmt, bewacht.

Die parlamentarische Demokratie

— Modell 1975 — hätte daher drei wesentliche Konstruktionsmerkmale: % Zusammenfassung aller Kräfte, # Teilung der Macht,

0 Stärkung der Legislativgewalt

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