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Nicht verbrannt, „nur“ geplündert

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Die Tempelgeräte der Jüdischen Gemeinde von Wiener Neustadt überstanden den Bombenkrieg in einem Schrank und fielen bei Kriegsende Plünderern zum Opfer.

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Die Tempelgeräte der Jüdischen Gemeinde von Wiener Neustadt überstanden den Bombenkrieg in einem Schrank und fielen bei Kriegsende Plünderern zum Opfer.

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Die jüdische Synagoge in Wiener Neustadt mußte — zwangsweise natürlich — bis zum 15. Dezember 1938 geräumt werden. Die Synagoge am Baumkirchnerring (heute Anton-Proksch-Haus) wurde 1902 erbaut, und es gibt wohl kaum jemanden (außer er ist Wiener Neustädter), der annehmen würde, sie wäre in der Nacht vom 8. zum 9. November 1938, der sogenannten Reichskristallnacht, nicht ebenso wie die meisten jüdischen Bethäuser

Österreichs und Deutschlands geplündert, zerstört und angezündet worden. Sie wurde aber verschont - bis auf das Abstemmen des auf der. Stirnseite angebrachten Davidsterns.

Der im März 1938 als Bürgermeister eingesetzte Dr. Edmund Scheidtenberger hatte die Absicht, das Gebäude anderen Zwecken zuzuführen. Das geht aus einem Schreiben hervor, das er am 4. Oktober 1938 - also noch vor der „Kristallnacht“ - an die „Kreisleitung“ richtete: „Nach hieramtlichem Dafürhalten ist das Bestehenbleiben eines Tempels für die wenigen noch hier wohnenden Juden nicht mehr nötig. Ich ersuche daher, den Tempel zu beschlagnahmen und der Stadt einzuweisen. Scheidtenberger.“

Es wirkt heute sonderbar, daß ein Bürgermeister das Ansuchen um Beschlagnahme eines Gebäudes an die Partei richtete, aber damals war das so üblich. Knapp einen Monat später legte der Stadtbaudirektor dem Bürgermeister einige Projekte vor: Eine Garage und ein Depot könne untergebracht werden, im Erdgeschoß acht Kanzleiräume mit Nebenräumen. Der Saal im ersten Stock biete nach Einziehen einer Decke 200 Personen Raum, eine Bühne sei gegeben. Garderobe- und Nebenräume seien vorhanden. Die Zierfenster müßten entfernt und durch neue Doppelfenster ersetzt werden. Die orientalische Außenansicht müßte teils abgestemmt, teils verkleidet werden.

Auf einer der Plahzeichnungen war bereits das künftige Aussehen erkennbar, mit wuchtigen SS-Runen, dem Zeichen jener Formation, die in den Konzentrationslagern die größten Verbre-

chen begangen hat. Zu dieser Änderung der Fassade ist es allerdings nicht gekommen.

Scheidtenberger ließ am 8. November 1938 den noch in Wiener Neustadt weilenden Vorsteher der Israelitischen Kultusgemeinde, Dr. Leopold Bauer, zu sich bestellen und machte ihm folgendes „Angebot“: Die Stadt erklärt sich bereit, die Synagoge um den von ihr geschätzten Preis von 11.500 Reichsmark unter der Voraussetzung zu kaufen, daß die Kultusgemeinde sämtliche Abgabenrückstände der Kultusmitglieder im Gesamtbetrag von 10.150 Reichsmark bei der Stadtkasse im Wege der SchulcTablösung zur Selbst-und Alleinbezahlurrg übernimmt.

Damals waren alle Handelsund Gewerbetreibenden auf Grund der lang andauernden Wirtschaftskrise verschuldet, nicht nur die jüdischen. Solche Schulden hatte jeder für sich selbst zu begleichen. Durch die der Kultusgemeinde aufgezwungene „Schuldübernahme“ ließ sich die nazistische Gemeindeverwaltung die Synagoge prak-

tisch schenken. Zum Zeitpunkt des „Angebotes“ hatte die Kultusgemeinde bei der Stadt ein Guthaben von 1.350 Reichsmark.

Also machte der Bürgermeister ein weiteres „Angebot“: Die Stadt werde allen jenen Juden, die noch in Wiener Neustadt lebten und dazu nicht imstande seien, die Transportkosten für ihre Ubersiedlung bezahlen. Die Juden waren aus der Stadt ausgewiesen worden und durften sich innerhalb eines Umkreises von 50 Kilometern nicht aufhalten. Man werde Lastkraftwagen zur Verfügung stellen. Die Kultusgemeinde müsse jedoch auch für diese Kosten aufkommen, und zwar bis zum Betrag von eben 1.350 Reichsmark. Letzten Endes wurde für die Synagoge von der Gemeindeverwaltung also nichts bezahlt.

Um den Druck auf die Kultusgemeinde zu verstärken, wurde ihr gedroht, erst nach Abschluß

des „Kauf-Vertrages werde jedem einzelnen Juden die für seine Ausreise erforderliche Unbedenklichkeitsbescheinigung ausgehändigt. Damit legten die Nazis der Kultusgemeinde die Entscheidung über Tod und Leben ihrer Angehörigen in die Hände.

Am Tage danach, am 9. November 1938, fand die „Reichskristallnacht“ statt. Dabei war auch in Wiener Neustadt die SA zum Sturm auf die Juden aufgeboten worden. Aber sie hatte Befehl, die Synagoge nicht in Brand zu setzen. Die Feuerwehr stand im Garten des Arbeiterheimes hinter der Synagoge bereit, um gegebenenfalls eingreifen zu können. Die Wiener Neustädter Naziführung wußte sich ja schon im Besitz des Gebäudes und wollte es nicht gleich wieder verlieren, noch dazu durch ihre eigenen Leute.

Jetzt hielt Scheidtenberger weitere Verhandlungen mit der Kultusgemeinde für nicht mehr nötig. Am 10. November faßte er das „Verhandlungs“-Ergebnis in einem ultimativen Schreiben zusammen und sandte es Dr. Bauer.

1941 beschloß die Stadtverwaltung die Adaptierung des Gebäudes und die Unterbringung des städtischen Wirtschaftsamtes. Im späteren Kriegsverlauf wurde die einstige Synagoge durch einen Bombentreffer in Mitleidenschaft gezogen. Nach Kriegsschluß wurde das Gebäude der Israelitischen Kultusgemeinde in Wien - in Wiener Neustadt konnte sie sich nicht mehr konstituieren — im Wege des Rückstellungsverfahrens zurückgegeben. Der Nazibürgermeister wurde nach dem Krieg wegen Illegalität zu 15 Monaten Kerker verurteilt.

Die SA zerschlug in der Kristallnacht die Fenster, zertrümmerte die wertvolle Einrichtung, beschädigte die herrliche Fassade und bemächtigte sich der silbernen Tempelgeräte und Kultgegenstände. Das heißt, sie stahl sie, genauer gesagt, „requirierte“ sie-im Deutschland Hitlers wurde ja nicht gestohlen, sondern requiriert.

Unter den wertvollen Kultgegenständen befanden sich eine Gewürzbüchse, eine Schwurhand und einige siebenarmige Chanuk-kaleuchter verschiedener Größe. Diese erinnern gemäß der jüdischen Mythologie an die 165 Jahre vor der Zeitrechnung erfolgte Wiedereinweihung des Tempels in Jerusalem. Zum Gedenken an dieses Ereignis findet alljährlich im Dezember ein acht Tage dauerndes Tempelfest statt, bei welchem täglich ein weiterer Leuchtarm entzündet wird.

Die SA-Leute mußten in der Folge die geraubten Heiligtümer abliefern, worauf sie auf dem Umweg über die Stadtverwaltung in das städtische Museum gelangten. Dort wurden sie vorerst in einer eisernen Kasse verwahrt.

Unmittelbar nach dem am 13. August 1943 erfolgten ersten amerikanischen Fliegerangriff begann man mit der Verlagerung der wertvollen Museumsobjekte an sichere Orte. Die jüdischen Tempelgeräte bezog man aber nicht in die Aktion ein, sondern ließ sie in der höchst gefährdeten Stadt (sie wurde zu 90 Prozent zerstört) zurück. In der Zeit der ärgsten Fliegerangriffe, 1944, wurden sie sogar der eisernen Kasse entnommen und in einem Holzschrank verstaut.

Wie durch ein Wunder wurde das Museumsgebäude nicht getroffen. In den Tagen jedoch, als die Front über Wiener Neustadt hinwegging und viele Einwohner sich aus der Stadt „absetzten“, drangen irgendwelche Leute in das Museum ein, öffneten mit Gewalt die Eisentüren und brachenalle Kästen auf.

Dabei wurden die silbernen Tempelgeräte—zum zweiten Male — geraubt. Sie sind selbstverständlich nicht wieder aufgetaucht.

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