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Nicht West-Ost, sondern Nord-Sud

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Vor kurzem überraschte die angesehene Abendzeitung „Le Monde“ ihre Leser mit einem Artikel, der die Frage stellte, ob Frankreich „noch so etwas wie eine Außenpolitik besitze“. Der Autor dieser Studie zeigte sich überaus skeptisch, soweit es die Erfolge der französischen Diplomatie betrifft.

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Vor kurzem überraschte die angesehene Abendzeitung „Le Monde“ ihre Leser mit einem Artikel, der die Frage stellte, ob Frankreich „noch so etwas wie eine Außenpolitik besitze“. Der Autor dieser Studie zeigte sich überaus skeptisch, soweit es die Erfolge der französischen Diplomatie betrifft.

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Freilich gehören die verschiedenen internationalen Demarchen nicht zum ständigen Bestand der öffentlichen Diskussionen. Die Nation be-- schäftigt sich intensiv mit Wirtschaftsfragen und richtet selten ihre Aufmerksamkeit auf Probleme, die jenseits der Grenzen liegen. Trotzdem regte die Feststellung in „Le Monde“ zum Nachdenken darüber an, inwieweit Paris ein außenpolitisches Konzept hat, das als Erbe General de Gaulles angesehen werden kann und heute noch Aktualität be^ sitzt. Natürlich sind die weltpolitischen Visionen des Begründers der V. Republik abgebaut worden und begrenzteren Vorstellungen gewichen. Giscard d'Estaing mag wohl weiterhin die staatliche Souveränität als ein kostbares Gut hüten, aber auch in dieser Hinsicht setzten sich neue Richtlinien am Quai d'Orsay dank der Initiative des Staatspräsidenten durch.

Will man die Schwerpunkte der Pariser Diplomatie studieren, so kann man gegenwärtig feststellen, daß die Probleme des Mittelmeers großen Raum einnehmen und vielfach die intensive Beschäftigung mit rein europäischen Fragen verdrängen. Die Beziehung zum französischsprechenden Afrika werden neu überdacht, und das Schicksal der Überreste aus der Zeit des Kolonialimperiums steht zur Debatte. Schließlich verfolgt Giscard d'Estaing mit beachtlicher Konsequenz den Versuch, einen breiten Dialog zwischen den Industriestaaten und der Dritten Welt samt den Erdölländern einzuleiten. Monoton wird hpi ipHpr OplpupTihAit Hpr Willp meinsamen Agrarmarkt der EG zu schützen und keine Initiative zuzulassen, die diese einzige vollendete Integrierung der Partner innerhalb der Wirtschaftsgemeinschaft bedrohen könnte. Vorläufig hegt noch nicht der Bericht des belgischen Ministerpräsidenten Tindemans vor, der von seinen Kollegen beauftragt wurde, Unterlagen zu sammeln, die es erlauben, auf dem Weg zu einer politischen Union fortzuschreiten. Allerdings hat Frankreich, wie auch eine Reihe anderer Staaten der EG, den Willen bekundet, 1978 direkte Wahlen für das europäische Parlament durchzuführen. Es ist bedauerlich, daß Großbritannien und Dänemark diesen Plan mehr oder weniger sabotieren. Vor allem Kopenhagen ist es, das die nationalen Wahlen mit jenen für das Europäische Parlament koppeln möchte. Soweit bekannt wurde, wird der internationale Volksentscheid zum selben Datum, aber nach unterschiedlichen Methoden durchgeführt werden; jeder Staat verwendet sein eigenes Wahlgesetz — soweit es Frankreich betrifft, müssen also die zwei üblichen Wahlgänge angesetzt werden. Das Europäische Parlament wird 355 Sitze haben, die proportionell nach der Bevölkerungszahl verteilt werden. Ein nationaler Abgeordneter kann natürlich auch ein europäischer werden. Sollte es gelingen, diese von Otto Habsburg und der Paneuropa-Union eingeleitete Aktion trotz der englischen und dänischen Einsprüche durchzuführen, so ist damit ein Prestigegewinn der europäischen Institution zu erhoffen. Sicherlich werden durch solche direkte Europawahlen die verschiedenen politischen Parteien der Länder gezwungen werden, ihre internationale Kooperation zu verstärken, wodurch wieder eine Vorstufe zur Bildung europäischer Parteien gegeben wäre.

Aber das Hauptaugenmerk ist in Paris seit Wochen auf die Vorgänge im Mittelmeer und auf die Veränderungen in Spanien gerichtet. Seitdem Georges Pompidou eine aktive französische Mittelmeerpolitik eingeleitet hatte, verbesserten sich die Beziehungen zu Madrid und wurden diskret ausgebaut. Die Entwicklung jenseits der Pyrenäen wird für Frankreich nachgerade zu einer Lebensfrage. Die V. Republik ist der einzige Staat der EG, der mit Spanien gemeinsame Grenzen besitzt. Konsequent hat die französische Diplomatie für eine Eingliederung Spaniens in die Gemeinschaft gekämpft und eine Annäherung Madrids an die NATO befürwortet Beide Wünsche der französischen und spanischen Diplomatie stießen auf den erbitterten Widerstand der Holländer und der Skandinavier. Sollten aber in Spanien Ereignisse eintreten, wie sie sich seit einem Jahr in Portugal abspielen, müßte Paris seine Mittelmeerpolitik vollkommen neu überdenken. Da Italien gefährdet ist, steht Frankreich als einziger Wachtposten der europäisch-westlichen Welt vor einem Raum, der durch Jahrtausende die Geschicke des Abendlandes mitbestimmt hat. Ale Meisterleistung Giscard d'Estaihgs kann der reibungslose Ausgleich mit den drei nordafrikanischen Staaten angesehen werden. Am schwierigsten war es, eine gute Verbindung zu Algerien herzustellen. Der fürchterliche Kolonialkrieg, der am 1. November 1954 begann und der von de Gaulle beendet wurde — er kostete Algerien, eine Million Tote —, stand lange als Hindernis zwischen den beiden Staaten. Die Empfänge aber, die die Bevölkerung Algeriens, Marokkos und Tunesiens dem französischen Staatspräsidenten bereitet hat, beweisen deutlich, daß alle Ressentiments aus der Kolonialzeit ausgemerzt sind. Das Europa gegenüberliegende Ufer des Mittelmeeres ist, entgegen aller düsteren Prophezeihungen, nicht in die Hände der zweiten Weltmacht gefallen. Gemeinsam mit diesen Ländern wünscht Paris, daß die riesigen Flotten der USA und der Sowjetunion das Mittelmeer, das in erster Linie als Verbindungsweg der Anrainerstaaten zu gelten hat, verlassen mögen. Infolge der Zypernkrise und einer unbedingten Unterstützung des Athener Regimes durch Paris kam es zu Spannungen zwischen Frankreich und der Türkei. Dennoch versuchte die französische Diplomatie, auch mit dem Staat am Bosporus wieder konstruktive Gespräche zu beginnen. Da Frankreich die letzten Positionen militärischer Natur im französisch-sprechenden Schwarzafrika geräumt hat, oder in absehbarer Zeit verlassen wird, ist auch hier das Ende einer Epoche und der Anfang einer neuen Situation gegeben. Sogar bisherige Tabus der internationalen Militärstrategie Frankreichs werden über Bord geworfen. So wagte es der letzte Ministerpräsident Georges Pompidous, der biedere Pierre Messmer, sogar, die Anwesenheit französischer Truppen in der Hafenstadt Djibouti zu kritisieren.

Die V. Republik ist stets für eine Neuordnung des internationalen Währungs- und Wirtschaftssystems eingetreten. Ein erster Versuch, die reichen Staaten des Westens mit jenen der Dritten Welt zusammenzuführen, erlitt im vergangenen Jahr Schiffbruch. Derartige Bemühungen versprechen nur dann Erfolg, wenn die Meinungen vorher zwischen der EG und den USA abgestimmt worden sind. Seitdem sowohl Paris wie auch Washington das Kriegsbeil begraben haben, konnte nun als verheißungsvoller Anfang die Zustimmung der USA Japans, Großbritanniens und der Bundesrepublik verbucht werden. Die Einladung aus Paris, die fünf kapitalstarken Länder, vertreten durch ihre Staats- und Regierungschefs, an den Konferenztisch zu bringen, sowie im Dezember die Repräsentanten eben dieser Staaten mit maßgebenden Delegierten der ölproduzierenden wie der Drittländer zu vereinen, verspricht bereits jetzt ein Erfolg zu werden. Damit wird Paris zum Mittelpunkt eines permanenten Dialoges Nord-Süd.

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