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Nichts

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Ich entdeckte das Gebäude am Rande der Stadt und dort war es auch gewiß nicht au übersehen. Ein Koloß aus Glas und Beton lag vor mir, eigentlich nicht ein einziges Haus, sondern deren vier oder fünf, die durch gedeckte Brücken mit einander .verbunden waren. Dahinter ging die Hauptstadt in eine Art Steppengelände über, an dessen Rand sich mächtige Wohnblöcke erhoben, aiber keiner von ihnen konnte mit dem kubischen Komplex wetteifern, der da vor mir in der Sonne funkelte. Ich hatte die Hauptstadt einige Jahre lang nicht besucht. Inzwischen hatte sie sich wohl hier in südlicher Richtung ausgedehnt, und so schien es durchaus logisch, daß man ein so stattliches Gebäude gerade hier errichtete, denn in der engen City hätte sich dafür kaum genügend Platz gefunden. Durch die riesigen Glasscheiben konnte man BüroangesteMte an ihren Schreibtischen werken oder auch Kaffee trinken und die Zeitung lesen seihen, was jedoch ihrem gespannt wichtigen Gesichtsaugdruck keineswegs Abbruch tat. Andere eilten, dicke Aktenbündel unter dem Ann, über die Verbinidiungsbrücke in andere Trakte des Komplexes. Dies war ohne Zweifel ein wichtiges Gebäude, Nervenzentrum eines mächtigen Konzernes vielleicht, oder Hochburg der staatlichen Verwaltung, eine sehr wichtige freilich. Was mich irritierte: nirgends stand angeschrieben, welchem bedeutenden Zweck dieser Bau diente. Und weil mich solcher Aufwand an Glas und Beton nun schon mächtig interessierte, trat ich ein.

Aufschriften über den Zweck des Unternehmens fand ich wohl auch hier nicht, höchstens kryptische Hinweise, die etwa besagten, die Abteilung 24 liege im zweiten, das Zentralarchiv im dritten Stock. Den Portier in seinem Glaskasten zu befragen, was denn dies nun für ein Haus ' sein soffleV wagte ich nicht angesichts seiner imposanten Geschäftigkeit. Aber am entgegengesetzten Ende der von spiegelndem Marmor glitzernden Halle lag die Telephonivermittlung. Sie war nur durch mannshohe Glasscheiben abgegrenzt, und über diese hinweg konnte ich rätselhafte Rufe hören wie: „Nichts — ich verbinde“ bder „Guten Morgen — hier Nichts — vielen Dank!“ Solche Ausrufe waren eher angetan, meine Neugier zu vermehren, als sie zu befriedigen. 'Als ein freundlicher Herr — mit einem Aktenstoß unterm Arm auch er — mich ansprach und fragte, ob ich etwas Bestimmtes suche, da schreckte ich zusammen.

„Nicht etwas Bestimmtes. Nur: ich wüßte gerne, was das für ein Gebäude ist.“

Es sei das Ministerium, bekam ich zu hören. Ob ich mich dafür interessiere? Und weshalb?

Natürlich wollte ich wissen, toelches Ministerium dies sei und was man hier tue, auch wenn er vielleicht die nötige Zeit habe, es mir zu erklären.

„Ich habe nichts zu tun“ sagte er geschäftig, „also ziemlich viel. Aber erklären kann ich es Ihnen schon. Dies ist das Ministerium für das öffentliche Nichts.“

„Für das öffentliche Was bitte?“ fragte ich ungläubig. Darauf wurde ich von dem Beamten belehrt, hier sähe ich, der ich ja offensichtlich Ausländer sei, das Nervenzentrum vor mir, von dem aus alle diejenigen Dinge gelenkt würden, die im ganzen Staate nicht geschähen, und ich könne mir leicht vorstellen, daß dies ziemlich viele seien. Er selbst arbeite in der Abteilung für Nicht-Bauten. Erst kürzlich habe er sich dorthin Versetzen lassen, weil indem Department für Nicht-Kultur, dem er zuvor angehört habe, derart viel zu tun sei, daß dort die Beamten glatt zusammenbrächen. Verständlicherweise war durch diese Auskünfte meine Neugierde keineswegs geringer geworden. Er jedoch empfahl mir, mich an die Informationsstelle zu wenden, wo man mir bereitwillig alles erklären werde. Er selbst habe leider nichts zu tun, und dies sei schon ziemlich dringend.

In der Informationsstelle wurde ich aufs1 höflichste empfangen. Im Gegensatz zu meiner Zufallsbekanntschaft schien der hier amtierende junge Mann weniger als nichts zu tun haben, denn er gab mir bereitwillig Auskunft. Er war um die dreißig, sah überaus smart aus und funkelte geradezu von einer Aktivität, die an den Mann gebracht werden wollte, in diesem Fall also an mich.

„Wir sind noch nicht lange in diesem Gebäude, und trotzdem wird es schon wieder zu klein,“ berichtete er mir nicht ohne Stolz. „Wir müssen bereits Nebenstellen in leerstehenden alten Amtsgebäuden errichten. Denn dies hier ist Aufbauarbeit. Wir haben ganz klein angefangen — in einer leerstehenden Schule.“ Er lächelte nachsichtig: „Die war natürlich nach einem Monat zu eng für uns.“

Wer denn diesen grandiosen Gedanken, diesen bürokratischen Geistesblitz gehabt habe, auf den unerklärlicherweise noch niemand zuvor gekommen sei, wollte ich wissen.

„Der Minister persönlich. Man sollte es nicht glauben: diese ganze prosperierende Entwicklung ist aus einer Verlegenheit geboren worden. Bei der letzten Regierungsumbildung wollte man einen so wichtigen und dynamischen Mann wie unseren Chef keineswegs entbehren. Aber alle großen Ressorts waren bereits in festen Händen. Da äußerte er selbst die revolutionäre Idee. Unter einem Ministerium für das öffentliche Nichts konnte sich, ehrlich gesagt, niemand etwas vorstellen. Aber man gab ihm die Chance, gab ihm das alte Schiuligebäude und dazu eine Handvoll Beamte. Und sehen Sie selbst, was unter seinen Händen daraus geworden ist!“

Ja, das sah ich selbst. Wenn auch die Informationsstelle nicht gerade überlastet war, konnte ich doch durch das wanidhohe Fenster in den Hof sehen: wie da in anderen Büros mit nervenzermürbender Emsigkeit telephoniert und auf den Maschinen geschrieben, wie da mit elektrisierender Aktivität konferiert und in Akten notiert wunde. Und was sich im Erdgeschoß hinter der Glasverschalung so langsam drehte, war wohl die Bandrolle eines Computers. Was denn nun aber eigentlich in diesem Gewimmel und Gesurre eigentlich geschehe, wollte ich hartnäckig wissen.

So viel Naivität entlockte dem jungen Mann einen nachsichtigen Blick himmelwärts. „Wo soll ich anfangen? Eine Autobahn wird nach reiflicher Erwägung nicht gebaut — der Akt wandert vom Bautenministerium zu uns. Wir beruhigen die benachteiligten Gemeindeväter, befriedigen die Projektanten, sammeln Argumente für den Nicht-Blau, bis das Aktenmaterial wirklich hieb- und stichfest ist. Wir betreuen bereits 12 nicht errichtete Krankenhäuser und vier Altersheime. Verhältnismäßig wenig Mühe machen uns die drei Universitäten, deren Errichtung ohnehin niemand ernsthaft betreibt. Unsere Kulturabteilung verleiht heuer zum ersten Mal den Staatspreis für nicht aufgeführte Theaterstücke. Ein bißchen voreilig, denn nun verlangt man von uns auch ähnliche Preise für un-aufgeführte Musik und nicht verkaufte Bilder. Wir tun, was wir können, aber so groß ist selbst unser Budget nicht. Die anderen Ministerien treten uns ihre unerledigten Agenden bündelweise ab. Manche Gesuchsteller sind allerdings etwas unglücklich, wenn sie hören, daß ihr Anliegen vom Ministrium für 'das öffentliche Nichts weiter behandelt wird. Es gilt als kein gutes Zeichen. Da muß nun die Informationsstelle eingreifen und im Publikum die Uberzeugung festigen, daß unsere Arbeit ebenso solide und umfangreich ist wie diejenige der anderen Behörden.“

„Daran zweifle ich ganz bestimmt nicht. Hier ist also eine Art Friedhof für abgelegte Projekte?“

„So würde ich es nicht nennen. Wir entwickeln großzügige Vorhaben. Im Augenblick arbeiten wir angestrengt an der Nicht-Reform unseres Strafrechts. Unsere ersten Juristen feilen bereits monateland an diesem Werk, Vorschläge und Expertisen werden zurückgewiesen, Gegen-Expertisen angefertigt. Was glauben Sie, wie Viele Sitzungen unsere Rechts-Koryphäen bereits abgehalten haben, um zu bewirken, daß unser Strafrecht bleibt, was es ist? Wir können weiters auf eine stolze Bilanz von nicht abgeschafften Steuern blicken, darunter solchen, deren einstigen Zweck wir nur mit Mühe klären konnten. Dann die viel Mühe mit den gestrichenen Wohnbauten, mit den nicht gewährten Subventionen. Und viele unserer bewährten Fachkräfte verwenden ihr Können und ihren Fleiß darauf, an der' Ablehnung von Gesuchen so lange zu arbeiten, bis der Antragsteiler stirbt.“

Das sei ja gewiß eine sehr abwechslungsreiche Arbeit, räumte ich ein, aber ob dieser Aufwand tatsächlich lohne?

„Wir sind leistungsintensiv wie nur wenige öffentliche Amter. Unser Etat ist groß, gewiß, aber die Ersparnis, die wir erwirken, übersteigt ihn um ein Vielfaches. Welche Behörde kann so etwas von sich behaupten? Kein Wunder, daß man uns immer mehr zuschanzen will, obwohl ja auch unsere Kapazität irgendwo ihre Grenzen findet. Daß unser Minister dabei eine der wichtigsten Persönlichkeiten der Regierung geworden ist, können Sie sich denken. Rein philosophisch betrachtet, ist eine Dienststelle wie die unsere auch dringend nötig. Dadurch, daß andere Ressorts immerzu etwas schaffen wollen und dafür natürlich Geld ausgeben, entsteht eine einseitige Belastung des Staatsapparats. Man braucht einfach das Gegengewicht, Sie verstehen: das Amt, das nichts in die Welt setzt, aber das ungemein intensiv. Die alten Chinesen fanden dafür die Formel von Yin und Yang. Wir stützen uns auf diese Philosophie — vielleicht haben Sie schon davon gehört?“

Ich hatte. Keinesfalls wollte ich sie mir von dem Chefideologen des seltsamen Ministeriums neu deuten lassen. Auch entsann ich mich nun, daß ich auf meiner Reise durchaus nicht, wie er, nichts zu tun hatte, vielmehr noch eine Menge unerledigter Angelegenheiten auf mich warteten,- die ich keineswegs einem dafür zuständigen Amt überlassen konnte. Ich dankte ihm für seine Aufklärungen. Im Fortgehen bewunderte ich noch einmal dieses Bild pulsierender Geschäftigkeit in den hektischen Büros und auf den überfüllten Korridoren. Als ich noch einen letzten Blick auf das blitzblanke Gebäude warf, imponierte es mir noch mehr als vorher. Hier war offensichtlich eine Institution geschaffen worden, die nicht nur dieser Staat dringend benötigte, sondern jeder andere auch.

Am selben Abend reiste ich ab. Selbstverständlich erzählte ich daheim von dieser absonderlichen und offenkundig segensreichen Einrichtung, die ich bei meinem Besuch schätzen gelernt hatte. Ich erntete nur massiges Interesse. Auch bei uns 1 daheim geschah oft nichts, aber man bediente sich dazu der herkömlich-en und, wie ich nun wußte, ganz unzureichenden Methoden. Man war wohl zu altmodisch, um die Größe dieser Idee in allen ihren Konsequenzen zu erfassen. Vielleicht waren wir einfach noch nicht reif dafür.

Als ich zwei Jahre später wieder in die fremde Hauptstadt kam, führte mich einer meiner ersten Wege an die südliche Peripherie, wo ich dieses Zentrum imponierender Aktivität wiedersehen wollte. Die Stadt war inzwischen weiter gewachsen. Wo früher schlichtes Steppengras sproß, wuchs nun ein neues Geschäftszentrum aus dem Boden. Das Ministerium nahm sich dazwischen nicht mehr so stattlich aus wie einst. Aber das lag nicht nur an seiner Umgebung. Zeichen von Verwahrlosung waren schon an der Fassade zu erkennen. Als ich eintrat, vermißte ich sofort die prickelnde Atmosphäre von hitziger Geschäftigkeit. Viele Büros waren leer. In den Halle lagerten Kisten. Man trug Pakete aus den Stockwerken ins Erdgeschoß.

Ich stieg in die erste Etage, schritt durch menschenleere Korridore auf das Zimmer zu, in dem, wie ich wußte, die Informationsstelle untergebracht war. Das Türschild war abmontiert. Aber der freundliche junge Mann, der mir die Yin- und Yang-Theorie in ihren politischen Aspekten klargemacht hatte, war noch da. Er stand in Hemdsärmeln inmitten des leeren Büros und packte einige Kisten. Zu meiner Freude erkannte er mich sofort und erinnerte sich noch recht an jenes Gespräch, das vor zwei Jahren bei mir so tiefen Eindruck hinterlassen hatte.

„Was geht hier vor?“ fragte ich ihn betroffen.

„Aus!“ seufzte er mit einem Achselzucken. „Wir schließen!“

Wie denn das zugegangen sei, wollte ich wissen. Weshalb man eine so zufcunftsträchtige Idee nunmehr im Stich lasse?. 1

„Der Ohef!“ rief er, und ich konnte seiner Miene ' entnehmen, daß er selbst sich nun emstlich Sorge um seine berufliche Zukunft mache. „Bei der letzten Rgierungsumbildung hat sich das Blatt gewendet. Unser Ministerium wird aufgelöst.“

„Ich verstehe — er ist jetzt nicht mehr Minister. Aber das Amt, das er geschaffen hat? Seine Idee?“

„Natürlich ist er wieder Minister geworden — wo denken Sie hin! Ein Apparat wie dieser trägt seinen Mann. Mit der Unzahl von Agenden, die er hier nach und nach an sich gezogen hat, konnte er sich natürlich eine Hausmacht aufbauen, größer und wichtiger als jedes andere Amt sie aufweisen könnte. Eine Regierung ohne ihn wäre einfach nicht mehr denkbar. Nein, abhalftern kann man einen Mann, der, so wie er, überall die Hände im Spiel hatte, ganz gewiß nicht.“

„Und- er ist jetzt .Minister für alles'. Es ist die logische Konsequenz dessen, was er hier jahrelang aufgebaut hat. Wir ziehen jetzt in ein andere, selbstredend größeres Haus. Dort werden alle Agenden weitergeführt, die wir hier entwickelt oder nicht entwickelt haben.“

Das sei doch eine imposante Aufgabe — auch für die Informationsstelle, suchte ich ihn zu trösten.

Aber zu trösten war er nicht: „Nennen Sie es meinetwegen Sentimentalität! Ein Ministerium für alles — darunter kann man sich eine Menge vorstellen. Für den Chef bedeutet das eine große Karriere. Aber die Idee geht dabei verloren. Ich hänge am Nichts, habe von der ersten Stunde an mitgearbeitet. Es hat uns Auftrieb gegeben und Mut. Das Nichts wird mir fehlen.“

Ich drückte ihm bedauernd die Hand. Ein faszinierendes Projekt würde nun nicht mehr weitergeführt werden, und — das Schlimmste daran — es gab nicht einmal mehr ein Ministerium für das öffentliche Nichts, das sich seiner Nichtdurch-führung annehmen konnte. Schon dieser Mangel allein führte einem vor Augen, wie dringend man dieser Institution bedurfte, gerade jetzt mehr denn je. Für den strebsamen jungen Mann hieß die Alternative „Alles oder nichts!“, und ich konnte nicht daran zweifeln, an welcher der beiden Möglichkeiten sein Herz hing.

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