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Nieder mit der Mauer!

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Ronald Reagan will, daß die Berliner Mauer fällt. In Ost-Berlin schreien junge Leute: Nieder mit der Mauer! Berlin - diesseits und jenseits der Mauer - jubiliert. Ohne Grund?

Berlin versteht sich heute als Seismograph der freien Gesellschaft. In der zweigeteilten Stadt, deren östliche Hälfte sich als Hauptstadt bezeichnet, bedeutet das 750-Jahr-Jubiläum eine Möglichkeit, Berlin wieder ins Weltbewußtsein zu heben und Ansätze zu einer neuen Deutschlandpolitik zu finden.

Etwa zur gleichen Zeit, als Ronald Reagan vor seinem Europa- Besuch von einem wiedervereinigten Berlin sprach, gab sich der DDR-Staatsratsvorsitzende Erich Honecker in den Niederlanden großzügig: „Wir haben die Mauer gebaut, wir können sie auch wieder abreißen, einfach verschönern oder eine Hecke daraus machen.“

Die Politiker-Äußerungen haben die Weltöffentlichkeit jedoch nicht so bewegt wie die Schreie junger Ost-Berliner, die Mauer niederzureißen, um zu einem Pop-Konzert auf West-Berliner Seite gelangen zu können. Eine - mit Einschränkungen apolitische Jugend im „Ost-Sektor“ brachte ihren Unmut zum Ausdruck, als unmittelbare Interessen^ betroffen waren. Ein Pop-., Konzert macht‘s möglich. Eigenartig, wenn man bedenkt, wie viele junge Menschen auch heute noch von der Mauer heruntergeschossen werden.

Der Westen wird die Krawalle in Ost-Berlin sicher goutieren - als Ausdruck eines politischen Willens in der jungen Generation der Deutschen Demokratischen Republik. Ob er hier nicht einem Wunschdenken erliegt, indem er überinterpretiert?

Die ältere Generation in der DDR wird kaum Verständnis für die Popmusik-Süchtigen aufbringen. Man soll sich nicht darüber hinwegtäuschen, daß auch auf der Ost-Seite ein hoher Grad an Identifikation mit „seinem“ Deutschland besteht. Die Bemühungen, die DDR als eigene Nation zu konstituieren, haben eine reale Basis. Wenn West-Berlins Oberbürgermeister Eberhard Diepgen es als Unmöglichkeit bezeichnet, ein Nationsbewußtsein herbeizuinterpretieren oder zu verordnen, dann gilt das nicht nur für DDR-Anstrengungen, sondern auch für westdeutsche Initiativen. Die eine deutsche Nation läßt sich eben heute nicht mehr herbeireden.

Das bundesdeutsche Grundgesetz hält zwar fest, daß es Einheit und Freiheit Deutschlands in freier Selbstbestimmung auch staatlich zu vollenden gelte; die realpolitischen Möglichkeiten erweisen diese Vorstellung jedoch bestenfalls als Zielparagraphen ohne nennenswerte Auswirkungen in der Gegenwart.

Nirgendwo prallen Wert-Op-tionen mit ihren konkreten Konsequenzen so kraß aufeinander wie in Berlin. Nirgendwo wird heute deutlicher, daß Freiheit, Friede, Menschenrechte und Einheit im politischen Sprachgebrauch nichts anderes als semantische Spielereien im Propagandagerangel sind, als in der geteilten Stadt.

Eberhard Diepgen, von Ost- Berlin von den Jubiläumsfeiern im Oktober ausgeladener Regierender Bürgermeister im Westteil, setzt trotz aller Rückschläge in der Berlin-Politik der Westmächte auf den Dialog „mit der anderen Seite“. Dieser Dialog sollte nach Ansicht Diepgens in Freiheit (von West-Berlin aus gesehen) und in einer verstärkten Westbindung Berlins geführt werden. Das Gespräch ist für den Regierenden Bürgermeister vor allem deswegen wichtig, weil eine „pragmatisch bewegliche Politik“ des Westens gegenüber Ost-Berlin - seit dem Abschluß des Vier- Mächte-Abkommens von 1971 - für den Westteil der Stadt die Gefahr eines „Status quo minus“ bedeutet. „Dieser“ — so Diepgen vor der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik in Bonn wörtlich - „könnte darin bestehen, daß Ost-Berlin sich außenpolitisch mehr und mehr in der Hauptstadtrolle verdeutlicht, während deutschlandpolitisch der Anschein eines reduzierten Status von West-Berlin verstärkt wird.“ Ein Ubersehen dieser Entwicklung könne eine Vertiefung der Trennung der Stadthälften bedeuten.

In einer dynamischen Auslegung des Vier-Mächte-Abkom- mens — Entwicklung der Bindungen zwischen Berlin und dem Bund, Verbesserung der Kommunikation zwischen West- und Ost- Berlin beziehungsweise der DDR sowie freizügigere Reisemöglichkeiten - liegt für Diepgen die Zukunft Berlins.

Dialog setzt Anerkennung des Partners voraus. Ist dies Basis der derzeitigen Ost-Politik Bonns? Konkrete Auswirkungen eines Dialogs für Berlin werden wohl so lange auf sich warten lassen, als Vorbedingungen das Gespräch blockieren. Mit Mauer und Schießbefehl wird es dem Westen aber nicht leicht gemacht, zu dialogisieren. Und Erich Honecker beim Wort nehmen? Sprüche tun’s nicht. Auch wenn sie propagandistisch ihre Wirkung oft nicht verfehlen.

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