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Niemand will in den Straßen Warschaus sowjetische Panzer

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Leszek Kolakowski, polnischer Professor der Philosophie, erlangte Weltruf durch den Versuch, den Marxismus zu kritisieren, um Marx unter den Bedingungen der Moderne weiterzudenken. Seit zwölf Jahren lebt Kolakowski mit einem polnischen Paß im Westen, die britische Universitätsstadt Oxford ist Stätte seiner Forschungs- und Lehrtätigkeit. Der Wissenschafter unterhält enge Beziehungen zum polnischen Komitee zur gesellschaftlichen Selbstverteidigung (KOR, siehe auch Stichwort, Seite2). Er bezeichnet sich als das einzige Mitglied des Komitees im A usland. Unser Londoner Korrespondent Erhard M. Huttersprach mit Professor Kolakowski in Oxford:

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Leszek Kolakowski, polnischer Professor der Philosophie, erlangte Weltruf durch den Versuch, den Marxismus zu kritisieren, um Marx unter den Bedingungen der Moderne weiterzudenken. Seit zwölf Jahren lebt Kolakowski mit einem polnischen Paß im Westen, die britische Universitätsstadt Oxford ist Stätte seiner Forschungs- und Lehrtätigkeit. Der Wissenschafter unterhält enge Beziehungen zum polnischen Komitee zur gesellschaftlichen Selbstverteidigung (KOR, siehe auch Stichwort, Seite2). Er bezeichnet sich als das einzige Mitglied des Komitees im A usland. Unser Londoner Korrespondent Erhard M. Huttersprach mit Professor Kolakowski in Oxford:

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FURCHE: Professor Kolakowski, die Forderungen der Streikenden in Polen werden als maßvoll, als nicht gegen das System gerichtet beurteilt. Sind aber Postulate wie freie Gewerkschaften, religiöse Sendungen in den Medien, Aufhebung der Zensur und dergleichen im kommunistischen Machtbereich nicht ausgesprochen revolutionär?

KOLAKOWSKI: Es hängt davon ab, wie man das herausgeforderte politische System definiert. Als absolute Voraussetzungen schließt das kommunistische System solche Institutionen ein wie strenge Zensur, vollkommene Zentralisierung aller politischen, wirtschaftlichen und militärischen, also auch polizeilichen Gewalt, ferner totale Kontrolle über alle Sphären des Lebens, Ausschluß der Bürger von jeder Partizipation am politischen Entschei-dungsprozeß und so weiter.

Wird Kommunismus als streng totalitäre Macht aufgefaßt, dann ist alles, was die Arbeiter fordern: mehr Freiheit, mehr Teilnahme und weniger Unterdrückung im Hinblick auf das Regime revolutionär. Ist es auch richtig, den Kommunismus historisch und ideologisch solchermaßen zu begreifen, so stellt sich doch heraus, daß sich dieser nicht durchsetzen kann, wenn er starr und unbeweglich an seinen Prinzipien festhält.

Tatsächlich wirkt sich der Totalita-rismus nicht nur in Polen, sondern auch in der gesamten kommunistischen Welt niemals grundlegend und universell aus. Er ist nicht frei von Rissen und Leerräumen. Wir haben erfahren, wie destruktiv das System ist, trotzdem eröffnet sich die Möglichkeit, effizienten Druck auf dasselbe auszuüben. Es handelt sich nicht um ein absolut starres System, bis zu einem gewissen Grad hat es Veränderungen zu akzeptieren.

Die von den Arbeitern erhobenen Forderungen sind meines Erachtens maßvoll. Sie richten sich nicht einmal gegen das, was von den Polen als die schmerzlichste Seite der gegenwärtigen Situation empfunden wird: die sowjetische Beherrschung des Landes. Freie Wahlen werden nicht verlangt.

Die Ansprüche beschränken sich auf die politische Partizipation durch freie, unabhängige Gewerkschaften und auf die Beseitigung der unerträglich lastenden Zensur, die jede echte Kommunikation zwischen Individuen, jede wirkliche Information verhindert und die Gesamtgesellschaft unter die Herrschaft systematischer und institutionalisierter Lüge zwingt.

Ich wiederhole: in einem ideologisch definierten, starren Kommunismus sind die gestellten Ansprüche revolutionär. Wir wissen aber, daß dem System Veränderungen abgerungen werden können - freilich stufenweise, nicht etwa als Ergebnis einer Bekehrung der Regierenden zu demokratischen Werten, sondern durch sozialen Druck und wirtschaftliche Notwendigkeit erreicht.

FURCHE: Die Streikenden wissen, was sie wollen; aber könnte durch sie nicht eine unvorhergesehene Entwicklung ausgelöst werden, die damit endet, das sich Prag 1968 wiederholt?

KOLAKOWSKI: Niemand kann dramatische Wendungen der Ereignisse mit Sicherheit ausschließen. Sollte je-

doch eine schreckliche, verheerende Si tuation eintreten - ich hoffe zutiefst, daß wir davon verschont bleiben - dann nur aus dem einen Grunde, weil die Regierung mit Gewalt gegen die Arbeiter vorgegangen ist.

Die Arbeiter haben stets bewundernswerte Sorgfalt und Verantwortungsbewußtsein an den Tag gelegt, wie ihnen nicht entgangen sein

wird: Es kam zu keinen Ausschreitungen, keinen Gewalttaten, nichts ist geschehen, was das Eingreifen polizeilicher Macht rechtfertigen müßte. Wenn der Gang der Ereignisse in Gewalt ausartet, dann trägt die Regierung die Verantwortung dafür.

FURCHE: Befindet sich nicht auch die polnische Regierung in einer äußerst prekären Situation, von Unruhen bedroht, falls sie Machtmittel einsetzt -und von sowjetischen Panzern, wenn sie sich den Arbeiterorganisationen gegenüber als zu nachgiebig erweist?

KOLAKOWSKI: Den Herrschenden in meinem Lande bleiben drei Möglichkeiten der Reaktion offen. Erstens: Sie können es auf eine gewaltsame Kollision mit den Arbeitern ankommen lassen. Das würde das Chaos, katastrophale Konsequenzen nach sich ziehen -nicht nur für sie selbst, sondern auch für das gesamteuropäische Sicherheitssystem. Und natürlich: die wirtschaftliche Situation würde dadurch noch mehr leiden.

Zweitens könnte die Regierung die gemäßigten politischen Forderungen der Arbeiter akzeptieren. Dafür setzt sich nicht nur das KOR ein, auch unter den Intellektuellen im Establishment gibt es Befürworter, viele Parteimitglieder eingeschlossen. Das ist die einzig denkbare und mögliche Voraussetzung für die wirtschaftliche Genesung Polens.

Wirtschaftsreformen können nicht

ohne breite Beteiligung der arbeitenden Bevölkerung eingeleitet werden. Gerade diese Partizipation ist aber unter den Bedingungen allseitiger Unterdrückung ausgeschlossen. Die meisten Reformen, soweit sie von den Macht-habern bisher in Aussicht gestellt worden sind, erwiesen sich wegen der Fülle politischer Restriktionen nur allzu bald als völlig unwirksam.

Wir glauben - ich meine damit das KOR und nicht nur dieses -, daß es keine wirtschaftliche Sanierung des Landes ohne politische Veränderungen geben kann.

Bisher hat die Parteiführung einen dritten Weg eingeschlagen: Die Arbeiter wurden mit vagen Versprechen ohne präzisen Inhalt getäuscht, man hoffte, diese würden ihren Widerstand aufgeben und die Kontrolle könnte so wieder hergestellt werden.

Die Regierung erweckte den Eindruck, verschiedene Arbeiterorganisationen in einzelnen Fabriken anzuerkennen und mit ihnen getrennt Verhandlungen zu führen. Tatsächlich wurde aber eine Einheit nach der anderen zerstört und dermaßen verhindert, daß die Organisierung der Arbeitergewerkschaften einen höheren Grad erreicht, so daß dieser schwerer beizukommen ist.

Die Verantwortlichen in Warschau setzten auf Zeitgewinn, sie hofften, die Arbeiter durch selektive Repressionen in die Erschöpfung zu treiben, Information und Kommunikation zu unterbinden und sich einer gefährlichen Situation ohne Gewaltanwendung zu entledigen.

Möglicherweise ist das auch jetzt ihre Strategie. Sollten sie damit Erfolg haben, dann würde diese Art von Befriedung mit Sicherheit in ernstliche Unterdrückung übergehen, in Repression der demokratischen, antitotalitären Opposition und der Arbeiterführer. Nur würden dadurch die wirtschaftlichen Probleme nicht gelöst und eine neue Welle von noch gefährlicheren Streiks wäre unabwendbar.

Die Verhaftung meiner Freunde im KOR in den letzten Tagen beweist freilich noch nicht, daß die Regierung den Kurs auf massenhafte Gewaltanwendung eingeschlagen hat, sie deutet vielmehr darauf hin, daß Kommunikation und Information zerschlagen werden sollen.

FURCHE: Und die Gefahr einer sowjetischen Invasion?

KOLAKOWSKI: In Augenblicken der Krise und der sozialen Spannungen wurde jahrelang von der Regierung in verschiedenen Andeutungen auf die sowjetischen Panzer, auf die Massaker und Blutbäder angespielt. Diese Andeutungen sind der einzige Weg, um mit der Bevölkerung eine bestimmte

Art von Kommunikation herzustellen, denn sie werden von jedermann verstanden.

Die Möglichkeiten einer sowjetischen Invasion können selbstverständlich nicht ausgeschlossen werden. Ich glaube nicht, daß sich die Sowjets leichten Herzens zu einem Einmarsch in Polen entschließen würden. Sie schrecken davor dann nicht zurück, wenn sie der Uberzeugung sind, daß das Land abfällt und die Partei komplett die Kontrolle über die Situation verloren hat.

Ansonsten würde sich Moskau wahrscheinlich nicht dazu entschließen, denn die Operation wäre in politischer Hinsicht extrem kostspielig. Die militärische Seite entzieht sich meiner Kenntnis. Sollte sich die Situation so weit verschlechtern, daß eine Invasion in den Bereich der Realität rückt, dann liegt der Grund darin, daß sich die polnische Regierung in verantwortungsloser Weise verhalten, durch Gewaltanwendung den generellen Zusammenbruch der Ordnung herbeigeführt hat.

Wieder hoffe ich, daß dies nicht geschieht. Eine Sache verbindet die regierende Partei, die demokratische Opposition und die Kirche: Niemand will sowjetische Panzer auf den Straßen Warschaus sehen!

FURCHE: Die Kirche. Welche Rolle spielt sie in diesem Freiheits-kampf?

KOLAKOWSKI: Besonders in der Nachkriegszeit war die Kirche in Polen

der einzige wichtige soziale Organismus, der sozusagen nicht nationalisiert wurde, nicht in Staatsbesitz übergegangen, immer unabhängig geblieben ist. Die Kirche ist natürlich keine politische Partei, kann es, will es gar nicht sein. Gleichwohl zieht sie als einzige, vom Staat unabhängige Kraft jede Art von Unzufriedenheit an. In den letzten Jahren, als die Partei

jede Glaubwürdigkeit verloren hat -niemand glaubt ihr mehr, auch wenn sie zufälligerweise einmal die Wahrheit sagt -, blieb die Kirche die einzige universal anerkannte moralische Autorität in unserem Land. Kein Mensch glaubt Gierek, aber jedermann vertraut Wy-schinski.

Die Kirche freilich macht von ihrem enormen Einfluß auf die Bevölkerung in verantwortungsvoller Weise Gebrauch, sie ermutigt in keinem Augenblick zu heftigen Reaktionen gegen das System der Unterdrückung, sie besteht auf den Menschenrechten, unterstützt die gerechten Forderungen der Arbeiter, vermeidet es aber, die explosive Situation noch mehr zu verschärfen.

FURCHE: Haben ihre Freunde, die Mitglieder des KOR mehr Kontakt mit der arbeitenden Bevölkerung als die sowjetischen Dissidenten?

KOLAKOWSKI: Ich kenne nicht alle, aber die meisten sind meine Freunde. Es sind Intellektuelle verschiedenen Alters: Zwischen 25 und 90 Jahren.

Das Komitee hat den Kontakt mit den Arbeitern aufgenommen, die Zeitschrift „Robotnik" spielte eine sehr wichtige Rolle als Kommunikationsund Informationszentrum für die Arbeiter in den letzten Wochen des Streiks, obwohl KOR nicht selbst Organisator des Streiks gewesen ist.

FURCHE: Zuletzt eine Frage an den Wissenschaftler, der als Geschichtsphilosoph in größeren Zeiträumen zu denken pflegt, weiter als die Tagespolitik: Wie sehen sie die künftige Entwicklung nach den Ereignissen in Polen?

KOLAKOWSKI: Ich wollte, ich hätte eine gute und schlüssige Antwort. Voraussagen sind schwierig, man kann nur bis zu einem gewissen Grad den Lauf des Geschehens extrapolieren, was keineswegs sicher und zuverlässig ist. Meine Auffassung ist die:

Das totalitäre System ist durch vielfältige innere Widersprüche belastet, mit denen es nicht fertig wird. Es ist seiner wirtschaftlichen und technologischen Ineffizienz auf allen Ebenen außer der militärischen - der alle Anstrengung gilt - nicht gewachsen. Es ist der Gefahr nationaler Spannungen in der Sowjetunion und im gesamten Ostblock ausgesetzt. Es ist nicht imstande, die sozialen Spannungen aller Art zu lösen.

Ich bin sicher, daß der Totalitaris-mus sein Ende finden wird. Wir sind nur durch die Möglichkeit beunruhigt, daß er in einer Explosion zusammenbricht, welche die gesamte Menschheit gefährdet. Es muß im Interesse der betroffenen Länder wie des Westens liegen, daß sich das System gewissermaßen durch interne Erschöpfung ändert, nicht durch eine Katastrophe.

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