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Nietzsche kehrt zurück

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Nietzsche ist heute, nach seiner fatalen Ausbeutung durch die Fanatiker der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts, in Frankreich, Japan und Italien als Dichter, Denker, Künstler entdeckt worden. Es gibt keine österreichische Nietzsche-Darstellung.

Nietzsche wollte mit Lou Andreas-Salome nach Wien übersiedeln, und kam mit einem Wiener Kreis von Verehrern in Berührung; sie waren fast alle Juden. Wiener, wie Joseph Panett, der Freud nahestand, und vor allem österreichische Frauen, wie Resa von Schirnhofer, deuten eine Dimension in Nietzsche an, die oft übersehen wird: Nietzsche als diskreter, charmanter, einfühlender, zuhörender Freund: er lebte mit Großbürgern und Adeligen, kleinen Adeligen, gerne zusammen.

Friedrich Nietzsche war verwandt mit Richard Wagner (was er und Wagner nicht wußten: Ihr „Krieg", ihre Haß-Freundschaft hätte sonst vielleicht andere Formen angenommen) und mit den Schlegels, mit Gneisenau, mit Pu-fendorf. Sich selbst wußte Nietz-

sche als „Nachkomme ganzer Geschlechter von christlichen Geistlichen". Nach rund vierzig Jahren, als er einmal etwas mehr Geld erhält, läßt er für seinen Vater-Pfarrer eine riesige marmorne Grabplatte herstellen. In all seinen Kämpfen gegen „das Christentum", konkret gegen das pau-liniiche Christentum - Paulus ist für ihn der Erfinder dieser fatalen Sache -, gegen Dogmatik, Kirche, Priester, klammert er Jesus aus. Spricht, noch spät, von seiner Ehrfurcht für die Bibel, wird noch kurz vor seinem Zusammenbruch von dem hellsichtigen Bonner evangelischen Theologen jüdischer Herkunft, Julius Kaftan, in seinem christlichen Untergrund erschaut, der in ihm arbeitet, lebenslang.

Kaftan meint, daß Nietzsche an seinem zerbrochenen Gottesglauben zugrunde ging, nie darüber hinweg kam. Wenn diese Deutung nicht zusehr gepreßt, und, wie es geschehen ist, von „orthodoxen" Nietzsche-Feinden in ein Gottesgericht umgemünzt wird, dann ist ihr Kern wohl richtig. Nietzsche war sehr früh ein Zerrissener, ein Gespaltener, lebt seit seinem ersten Semester als Student „eine gewählte doppelbödige Existenz", die zur Katastrophe führt, wobei die zehn Baseler Jahre als Professor für ihn einen Aufschub bedeuten, obwohl er hier früh erfährt, wie er eben nicht Professor, nicht Philologe, nicht deutscher Stubengelehrter sein wollte, sondern dies: Künstler, vor allem Komponist, Dichter, dann Seher, dann Prophet.

Nietzsche nützt seine Krankheit, deren Herkunft er erst spät als luetische Infektion deutet, lebenslang aber als Erbgut seines früh gehirnkranken Vaters versteht (Alptraum seines Lebens), zur Vergrößerung seiner geistigen Spannweite, zur Erhöhung seines Lebensgefühls, zur Weitung seiner Sensibilität. Es gibt wohl wenige Menschen, die so viel aus ihrer Krankheit „gemacht" haben, wie dieser Einsame, der sich nach dem Glück der Freundschaft sehnt - nicht nach Ehe, obwohl er mehrfach wirbt, nicht nach sexueller Vereinigung.

Die Fülle von Neuigkeiten, die uns Curt Paul Janz vermittelt, zeigt einen Menschen, der uns heute, jenseits aller Nietzsche-Mythologie, sehr nahekommen kann. Janz stellt die Frage: „Hätte ein gesunder, alter Nietzsche der Menschheit den Weltkrieg ersparen können?" Nietzsche hätte, bei robuster Gesundheit, die in seinem Körper angelegt war, bis etwa 1924/25 leben können. Nietzsche kämpft den letzten Kampf seines Lebens gegen die Hohen-zollern, gegen die Rüstung, die Europa zersetzt, vergiftet (wie nah klingt das alles, 1983!), gegen den Wahnsinn des spezifisch deutschen Antisemitismus (nicht fem ist uns auch das!). Kein Mann des Krieges. Sein berühmt-berüchtigtes Wort von der „blonden

Bestie" wendet sich gegen die archaische, bestialische Vergangenheit, die im Menschen immer wieder hochkommt… Oft ist er in der Nähe von Sigmund Freud, als Tiefenpsychologe, der über seinen eigenen Abgründen brütet.

Nietzsche: „Eigentlicher Zweck allen Philosophierens die intuitio mystica." Ja. er war ein Mystiker; seine Aussagen über Leiden als unersetzliche Erzieher zum Menschsein erinnern nicht nur verbal an Meister Eckhart. Seine Zerrissenheit ist die seiner Epoche. Seine „Visionen" künden die Schrecken des 20. Jahrhunderts.

Heimkehr in den Schoß der Mutter, in seine Umnachtung. Da spielt er auf dem Klavier Choräle; wirkt „sehr fromm", bis dann - so Freund Gersdorff - am 17. Februar 1891 „der Wahnsinn in Blödsinn", in völlige Apathie umschlägt. Curt Paul Janz zeigt dies Menschenleben auf. nüchtern, seine Brüche, seine Brüchigkeiten

— und seine eigentümliche Größe

— dokumentierend. Es war nicht die Größe Wagners, des Magiers, des Schauspielers, war kein Führer-Charisma, es ist die Größe eines leidenden Menschen, der Krankheiten unserer Zivilisation wie wenige vor und nach ihm. ersehen und erlitten hat. Nietzsche heute also: Einführung in unsere Situation.

FRIEDRICH NIETZSCHE. Von Curt P.ul Janz. Deutscher Taschenbuch-Verlag, München. 3 Bde.. kart., öS S24,Sa

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