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Nirgendwo ein Feind

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15 Jahre lang schleppten sich die Wiener Truppenabbaugespräche (MBFR) müde dahin, der beste politische Wille zur konventionellen Abrüstung stolperte über Daten- und komplizierte Äquivalenzfragen. Michail Gorbatschow fegt darüber hinweg. Er bietet an, was Militaristen in West und Ost bisher nur als krankhaften Ausfluß eines friedensbewegten Utopistengehirns sehen konnten: einseitige Abrüstungsschritte als Vorleistung ohne Bedingung.

Eine halbe Million Soldaten, 10.000 Panzer, 8.500 Geschütze und 800 Kampfflugzeuge will der sowjetische Staats- und Parteichef bis 1991 im europäischen Teil der Sowjetunion, in der DDR, der CSSR und in Ungarn abbauen. Ein echter Schritt weg von der militärischen Drohung? Fest steht: Jetzt zittern nur mehr die Militaristen. Die Rüstungslöbby kommt in einen argen Argumentationsnotstand. Zumal ja die Gorbat-schowsche Initiative jenen konventionellen Abrüstungsgesprächen vorgelagert ist, die als Ergebnis des offenbar vor seinem Ende stehenden Wiener KSZE-Folgetreffens ab 1989 in zwei Konferenzsträngen in Wien weiterlaufen werden.

Die 35 KSZE-Staaten werden weiter über sicherheits- und vertrauensbildende Maßnahmen nachdenken, die 23 Allianzstaaten (16 NATO- und sieben Warschauer-Pakt-Länder) werden sich autonom, aber über Informationskanäle mit der KSZE verbunden der schwierigen Abrüstungsfrage im konventionellen Bereich stellen.

Aber immerhin stehen die neuen Verhandlungen unter einem guten Stern. Oberst Simon Palmi-sano, Militärberater der österreichischen Delegation bei der KSZE, anerkennt sowohl die große Bedeutung der Gorbatschow-Vorschläge für die Konferenz-für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa als auch die Wahl des günstigsten Zeitpunkts für die sowjetische Initiative.

Palmisano beurteilt die angekündigte sowjetische Vorleistung als Versuch, ohne Gesichtsverlust von den auslaufenden MBFR-Ge-sprächen in neue Verhandlungen umzusteigen. Im Gespräch mit der FURCHE verweist der Oberst darauf, daß die UdSSR damit gleichzeitig Disparitäten im konventionellen Bereich zugegeben habe und daß man über eine verifizierbare Truppenreduktion im Warschauer-Pakt-Bereich zu verifizierbaren Daten der konventionellen Stärke als Basis künftiger Gespräche gelangen könnte.

Die Datenfrage ist für Palmisano —neben dem politischen Willen zur Abrüstung - ganz entscheidend, haben sich doch Schwierigkeiten im Verlauf des Wiener KSZE-Treffens immer in der Detailarbeit ergeben, die das Ende der Konferenz stark verzögerten.

Die Durchsetzung von Rüstungskontrollschritten ist — wie Palmisano betont — innerhalb des Warschauer Paktes mit der UdSSR als unbestrittener Führungsmacht ungleich leichter als die Konsensbildung bei den demokratischen NATO-Ländern. Den Eindruck, daß die NATO nur überrascht auf die immer neuen Abrüstungsvorschläge aus der Sowjetunion starrt und nichts Gleichwertiges anzubieten hat, teilt er nicht.

Die Vorstellungen über Defensivkonzepte in den sicherheitspolitischen Diskussionen der Bundesrepublik Deutschland haben nunmehr auch in der Sowjetunion zu Überlegungen von Defensivkonzepten geführt — auf der Grundlage einer „hinreichenden Verteidigungsfähigkeit“. Etwas schwer wird sich die NATO aber künftig mit dem atomaren Erstschlagsvorbehalt als Teil der Eskalationsleiter im Konzept der „flexible response“ tun. „Dem steht ein verbales Nein des Warschauer Paktes gegenüber, das eigentlich keinen konventionellen oder atomaren Erstschlag des Warschauer Pakts befürchten läßt.“

Palmisano: „Wenn man diesen Beteuerungen und der jetzigen Gorbatschow-Ankündigung glaubt, dann gehen wir tatsächlich einer sicheren Welt entge-gen.

Aber noch sei alles bloße Ankündigung. Für Palmisano Grund zu gesunder Skepsis. „DieMedien tun sich jetzt im Entwerfen künftiger sicherheitspolitischer Szenarien leicht. Ich glaube aber nicht, daß Gorbatschows Initiative rasche Auswirkungen haben wird. Wir sollten auf dem Boden der Realität bleiben.“

Die defensive Militärdoktrin der Sowjetunion, den Willen der UdSSR, keinen Erstangriff zu starten, Truppenreduzierungen vorzunehmen und Verteidigungsbelange im militärischen Ausbildungssystem zu betonen und Defensivstrukturen auch in der Dislozierung zu fördern — unlängst erst von Generaloberst Nikolai Tscherwow, Chef der Verwaltung des Generalstabes der Streitkräfte der UdSSR, österreichischen Militärs erläutert — bewertet Palmisano sehr positiv. Als Manöverbeobachter in Warschauer-Pakt-Staaten gibt er aber zu bedenken, daß Übungen sowjetischer Truppen noch immer nach einem gewohnten Angriffsszenario ablaufen.

Michail Gorbatschows geplante Vorleistung hat sowohl in der westlichen wie östlichen Öffentlichkeit Hoffnungen geweckt, mit denen Politiker und Militärs in Zukunft rechnen müssen. Auch wenn die Tatsachen der Vision noch nicht entsprechen (können), zeichnet sich der langsame Abschied von Feindbildern ab. Politiker müssen bloß begreifen, daß die Sowjetunion kein Feind mehr sein will.

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