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Nixons Koexistenz

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Obwohl die Vietnamverhandlungen alle Aufmerksamkeit des Publikums auf sich ziehen, sind sie bloß ein Ausschnitt der globalen außenpolitischen Pläne der Regierung Nixon. Natürlich standen im letzten Wahlkampf innenpolitische Probleme obenauf, und auch das Thema Vietnamkrieg wurde bloß in seinen innenpolitischen Aspekten von beiden Kandidaten behandelt. Aber die Außenpolitik ist Präsident Nixons besonderes Interessengebiet. Diese Tatsache spiegelt sich schon in der Verwaltung und Wahrnehmung außenpolitischer Interessen wider.

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Obwohl die Vietnamverhandlungen alle Aufmerksamkeit des Publikums auf sich ziehen, sind sie bloß ein Ausschnitt der globalen außenpolitischen Pläne der Regierung Nixon. Natürlich standen im letzten Wahlkampf innenpolitische Probleme obenauf, und auch das Thema Vietnamkrieg wurde bloß in seinen innenpolitischen Aspekten von beiden Kandidaten behandelt. Aber die Außenpolitik ist Präsident Nixons besonderes Interessengebiet. Diese Tatsache spiegelt sich schon in der Verwaltung und Wahrnehmung außenpolitischer Interessen wider.

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Henry Kissinger, von vielen als Nixons eigentlicher Außenminister bezeichnet, operiert als Experte mit einem Stab von mehr als 100 Spezialisten im Weißen Haus, während Secretary of State Rogers den riesigen diplomatischen Apparat der Vereinigten Staaten von den Gebäudekomplexen des „Foggy Bottom“ aus verwaltet. Im Weißen Haus wird Außenpolitik gemacht, am „Foggy Bottom“ Außenpolitik administriert. Ausländische Botschaften und Journalisten stehen mit Rogers in Kontakt, diplomatische Ernennungen werden von Rogers vorbereitet, die umfangreiche Routinearbeit der Verwertung von Depeschen und Berichten, die Inventarisierung der außenpolitischen Gegebenheiten — das alles wird durch die Bürokratie des State Department wahrgenommen.

Die Initiativen an den außenpolitischen Brennpunkten jedoch: Vietnam, Nahost, Entscheidungen über neue Tendenzen in Fragen der Abrüstung, Beziehungen zur Sowjetunion, zu Rotchina, die Einstellung zur Handelspolitik des Gemeinsamen Marktes — das alles sind P, deren Behandlung Präsident Nixon und sein Berater Kissinger sich selbst vorbehalten haben.

Dieser Dualismus wird oft kritisiert und ironisiert. Kritisiert von ausländischen Diplomaten und Journalisten, die nur selten durch Henry Kissinger direkt informiert werden, sondern meist sozusagen aus zweiter Hand, durch die zuständigen Sprecher im State Department. Denn Kissinger und sein Stab arbeiten von der Öffentlichkeit so isoliert, daß kürzlich der satirische Schriftsteller Art Buchwald eine Konferenz hoher State-Department-Diplomaten unter Rogers erfand und beschrieb, die versuchen wollten, ihre Spione und Informatoren ins Weiße Haus einzuschleusen.

Gerade diese „Abschirmung“ wird aber der Regierung Nixon von Kongreßkreisen vorgeworfen: denn die dem Präsidenten unterstellten Experten können vom Kongreß nicht interviewt werden, ohne daß der Präsident seine Zustimmung dazu gibt. Die auch im Wahlkampf oft an die Adresse Nixons erhobenen Vürfe, er entziehe die Außenpolitik und andere lebenswichtige Entscheidungen militärischen Charakters dem Begutachtungsprozeß des Kongresses und damit des Volkes, haben ihre Hauptursache in dem System der dualistischen Außenpolitik.

Es ist verständlich, daß diese Konstruktion nur funktionieren kann, wenn beide „Außenminister“ einander ergänzen und einander auch ergänzen wollen. Denn nicht alle außenpolitisch interessierten Kandidaten für das Amt des Secretary of State würden die zweite Geige neben einem Henry Kissinger oder dessen Nachfolger spielen wollen. Hier wird es Schwierigkeiten bei der personellen Besetzung geben, denn

man hört, daß Henry Kissinger nach Beendigung der Vietnahmverhand-lungen an seinen akademischen Ausgangspunkt Harvard zurückkehren will.

Ein klassischer Fall ist Vietnam. Es ist noch verfrüht, die einzelnen Bestandteile des Abkommens mit Hanoi zu durchleuchten, weil sie zur Zeit der Abfassung dieses Artikels noch Gegenstand intensiver Verhandlungen sind. Nachdem jedoch das amerikanische Wahlvolk am 7. November Präsident Nixons Arrangement mit Hanoi durch Nixons überwältigende Wiederwahl bestätigt hat, kann der Präsident jetzt versuchen, bessere Bedingungen zu erreichen.

Freilich helfen ihm dabei militärische Engpässe Hanois sowie eine ökonomisch bedingte, abwartend neutrale Haltung Moskaus und Pekings. Immerhin hat Hanoi die Aufrechterhaltung einer antikommunistischen Regierung unter Präsident Thieu, zumindest in einer Ubergangsphase, akzeptiert, ferner die Herausgabe der amerikanischen Kriegsgefangenen, eine internationale Überwachung des Waffenstillstandes und, via facti, eine südvietnamesische Armee, die über die drittstärkste Luftwaffe der Welt verfügt. Verbesserungen sollen vor allem in Richtung auf einen Abbau der kommunistischen Truppenstärke in Südvietnam erzielt werden.

Im Nahen Osten hofft Präsident Nixon, die nächste Bresche in den latenten Kriegszustand schlagen zu können. Als er kürzlich New York besuchte, zeigte er sich mit einem israelischen und ägyptischen Studenten in der Öffentlichkeit, deren Hände er symbolisch ineinander-legte. Der Abzug sowjetischer Truppen und Waffen aus Ägypten erscheint Nixon als die Voraussetzung für ein Minimalprogramm: die Wiedereröffnung des Suezkanals.

Auch hier hat er nach dem 7. November etwas mehr Spielraum, da er auf jüdische Stimmen weniger Rücksicht nehmen muß als vor der Wahl — wenn er gegenüber Israel „konstruktiven Druck“ ausüben müßte.

Gegenüber Lateinamerika werden sich die Vereinigten Staaten mit der Unterstützung medizinischer, wissenschaftlicher und begrenzter ökonomischer Programme begnügen. Das marxistische Experiment Chiles ist labil genug, um abzuschrecken. Anderseits wirkt das Beispiel des erfolgreichen kapitalistischen Systems Brasiliens und die Stabilität seiner Regierung konstruktiv. Überdies werden momentan zu Kuba gewisse Fäden gesponnen, die eine Unterbindung von Akten der Luftpiraterie zum Ziele haben. Das könnte letztlich Kuba als ein Konspirationszentrum Lateinamerikas entschärfen.

Sehr schwierige Verhandlungen erwartet sich die amerikanische Außenpolitik in den nächsten vier Jahren mit den Ländern und Behöderden des europäischen Gemeinsamen Marktes. Die amerikanische Wirtschaftspolitik hat mit Konsequenz und einiger Härte als einzige freie Wirtschaft die Inflation erfolgreich bekämpft. Sie will jetzt ihrem Export die durch die Dollarabwertung verbilligte Konkurrenzbasis auf dem europäischen Markt sichern. Mit Yankee-Härte sollen die qualitativen und quantitativen Einfuhrbeschränkungen des Gemeinsamen Marktes attackiert werden. Daß dabei die Stationierung amerikanischer Truppen in Europa eine wichtige Rolle spielen wird, wurde bereits ausgesprochen. Verhandler vom hemdärmeligen Typ Connallys werden dabei verbindlichen Diplomaten weichen.

Die Beziehungen zur Sowjetunion haben vor allen anderen Priorität. Eine vermutlich richtige Einschätzung der sowjetischen Allgemeinstärke, insbesondere aber ihrer schwierigen wirtschaftlichen Lage, haben es der Regierung Nixon ermöglicht, eine wesentliche Verbesserung des Klimas und eine Ausschaltung der unmittelbaren nuklearen Drohung zu erzielen. Das SALT-Ab-kommen soll erweitert und die Periode der wirtschaftlichen und vor allem agrarischen Schwäche der Sowjetunion bei Verhandlungen um die Stärke sowjetischer Truppen in Europa ausgenützt werden.

Die Öffnung der Pforte zu Peking zeigt für den Uneingeweihten noch keinerlei Folgen. Verbesserte Wirtschaftsbeziehungen haben graduellen Charakter, da bloß zwei hochentwickelte Wirtschaftssysteme vorteilhafte Ergänzungsmöglichkeiten besitzen. Stärkerer persönlicher Kontakt, Austausch von Journalisten und Kulturaustausch sollen jedoch das Klima allmählich anwärmen. Das außenpolitische Potential ist zwar groß, liegt aber noch in der Ferne. Daher dürfte eine in Peking gemachten Konzessionen bezüglich Taiwan im Augenblick weder erfolgen noch gefordert werden.

Diese illustrierte Außenpolitik ist innenpolitisch vertretbar. Sie kann mit einem militärischen Budget ausgeführt werden, das sich auf der Höhe der Militärausgaben der letzten Jahre hält und dabei der Entwicklung moderner Waffen noch Raum läßt. Das heißt, was in Vietnam eingespart wird, geht zum Großteil in die militärische Forschung und zu einem geringeren Teil in heimische Programme. Sie kann schließlich auch mit einer Freiwilligen-Armee ausgeführt werden, die in den nächsten Jahren die Zwangsdienstpflicht ersetzen soll. Dabei bleiben die Vereinigten Staaten eine Weltmacht — nicht eine, die versucht, jede „Verletzung der Ordnung“ zu ahnden, aber eine Macht, die in Zusammenarbeit mit anderen Großmächten gemeinsame Interessen verteidigt. Leben und leben lassen unter Großmächten — das ist die Parole, solange dadurch der Weltfriede gewährleistet bleibt.

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